Liebe Brüder und Schwestern,
Heute schreibe ich Ihnen aus Korea, wo meine eigene Kongregation ein Generalkapitel in der Abtei von Waegwan abhält, mit 130 Mönchen eine der größeren Gemeinschaften des Ordens. Das Kapitel war notwendig geworden, weil die Ottilien-Kongregation nach meiner Ernennung zum Abtprimas einen neuen Abtpräsidenten finden musste. Weitere Neuigkeiten dazu finden Sie im Benediktinernachrichten und Wahlen dieser NEXUS-Ausgabe.
Südkorea ist derzeit etwas unruhig, da der Präsident vor einem Monat versucht hat, die demokratischen Institutionen des Landes zu untergraben, indem er das Kriegsrecht ausrief. Die Gesellschaft und die Institutionen haben sich jedoch als widerstandsfähig erwiesen, und der Präsident befindet sich derzeit in Haft, während über die nächsten Schritte beraten wird. Dies ist nur eines von vielen Beispielen einer Welt, die sich dramatisch zu verändern scheint – und leider eines der harmloseren.
Seit Weihnachten hat unsere katholische Kirche fünf Heilige Pforten zu dieser Welt geöffnet. Es sind Pforten der Barmherzigkeit, offene Zeichen für die Gegenwart und Zugänglichkeit Gottes. Jeder ist eingeladen, die Schwelle dieser Heiligen Pforten zu überschreiten, unabhängig von seinem Glauben. Allein in St. Peter sind in den ersten Tagen mehr als eine halbe Million Menschen durch die Heilige Pforte gegangen, und vor einigen Tagen sah ich eine lange Schlange vor Santa Maria Maggiore. Am 5. Januar war ich in der Basilika St. Paul vor den Mauern dabei, als die letzte dieser Türen geöffnet wurde. Kardinal Harvey, der Erzpriester der Basilika, leitete die würdige Zeremonie. St. Paul ist ja auch ein lebendiges Benediktinerkloster. Deshalb kamen viele Mitbrüder aus Sant’Anselmo und anderen benediktinischen Häusern zusammen, um gemeinsam mit den Mönchen der Abtei durch das offene Tor der Liebe Gottes zu schreiten. Ich war tief berührt von der Symbolik dieser offenen Tür. Sie bedarf ja keiner Erklärungen. Alle Kulturen verstehen die Bedeutung von Türen, Toren und Schwellen. Schwellenerfahrungen sind Erlebnisse des Übergangs. Jeder versteht, was es bedeutet, dass eine Tür geöffnet wurde.
Papst Franziskus hat dieses Heilige Jahr unter das Motto „Pilgerreise der Hoffnung“ gestellt. Die päpstliche Bulle, mit der er dieses Gnadenjahr ankündigte, trug den Titel: Spes non Confundit – Die Hoffnung enttäuscht nicht. Für uns Benediktiner hat die lateinische Formel eine besondere Resonanz mit dem Text des Suscipe, der Antiphon, die in vielen unserer Klöster während des Professritus gesungen wird: Et ne confundas me ab exspectatione mea. Lass mich in meiner Hoffnung nicht zuschanden werden. Ein sehr benediktinisches Jubiläum also. Hoffen wir es.
Vor Kurzem wurde ich daran erinnert, dass Hoffnung keine Gnade oder Gabe ist, sondern eine Tugend. Wir sprechen heutzutage nicht oft über Tugenden, und vielleicht müssen wir uns das doch gelegentlich zumuten. Tugenden sind nicht nur Gnadengaben oder Geschenke sondern das die Frucht konsequenten Übens. Etwas, das erarbeitet werden muss, oder mit anderen Worten: Teil unserer asketischen Praxis. Ich finde das sehr aktuell. Hin und wieder höre ich von Mönchen und anderen, dass sie entmutigt sind, wenn sie von Führungspersönlichkeiten und Mitbrüdern hören, die recht flapsig darüber sprechen, dass sie wohl die Letzten ihrer Gemeinschaft sind, oder darüber, dass jemand das Licht ausmachen muss, wenn alle gegangen sind. „Wer wird in 20 Jahren noch hier sein?“ Nun, niemand, wenn diese Stimmen die Oberhand gewinnen, das ist klar. Ich denke nicht, dass wir uns über die Perspektiven einiger unserer Gemeinschaften etwas vormachen sollten. Aber es gibt einen Unterschied zwischen nüchternem Realismus – der eine Form von aufrichtiger Demut ist – und flapsigem, zynischem Gerede, das die Brüder entmutigt und ihre Kraft, Energie und ihren guten Willen untergräbt. Vielleicht ist das ein Weg, um das Heilige Jahr umzusetzen: indem wir die Hoffnung nähren – nicht mit verblendetem Optimismus, sondern indem wir Türen für das Wirken Gottes in unserem Leben und in unseren Gemeinschaften offen halten.
Mit herzlichen brüderlichen Grüßen
Abt Jeremias OSB
Abtprimas
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