Maria Augusta Tescari OCSO
Abtei Vitorchiano (Italien)

Mutter Pia Gullini OCSO (1892–1959)

Eine große Äbtissin des 20. Jahrhunderts

 

 

In der Geschichte und dem Leben unserer Gemeinschaften gibt es Wege, die sich einer oberflächlichen Analyse entziehen: Man muss tief graben, um die geheimnisvollen Wege zu erahnen, derer sich die Vorsehung bedient, um sich eine Bahn durch die menschlichen Widersprüche zu schaffen.

Manchmal ist man erstaunt über die Fruchtbarkeit der Gemeinschaft von Vitorchiano, die zahlreiche Klostergründungen ins Leben gerufen hat. Diese Vitalität, die an ein Wunder grenzt, lässt sich mit dem biblischen Gesetz vom Weizenkorn erklären, das stirbt und dabei viele Früchte hervorbringt. Jeder kennt das Opfer unserer seliggesprochenen Mitschwester Maria Gabriella, aber in der komplexen Geschichte unseres Kloster, das aufgrund seiner materiellen und intellektuellen Armut lange Zeit das Aschenputtel des Ordens war, gab es ein anderes, weniger bekanntes Korn mit außergewöhnlichen Qualitäten: Mutter Pia Gullini, Äbtissin von Grottaferrata von 1931 bis 1940 und von 1946 bis 1951. In ihr erreichten Demut, Mütterlichkeit und Sinn für die Kirche einen außergewöhnlich hohen Grad.

Wir wissen, dass Mutter Pia immer den Wunsch hatte, eine Gemeinschaft zu gründen; sie verglich diesen Wunsch mit einem Baum, den sie gepflanzt hatte und den andere (Obere und die Umstände) immer wieder gefällt hatten, der aber dennoch immer wieder neu ausschlug. Im Jahr 1948 schrieb sie an einen Abt des Ordens:

„Wenn der Herr will, wird er zu diesem Baum sagen: ,Lass deine Blumen wachsen‘, dann wird es sein Frühling sein und niemand wird sein Blühen aufhalten können.“

Und an denselben Empfänger vier Jahre später:

„Der Herr geht langsam voran, aber er erreicht immer sein Ziel. Ich vertraue auf ihn und lasse ihm seine unendliche Freiheit. Wenn ich bereits bei Ihm bin, wenn Er diesen Wunsch erfüllt, werde ich doppelt helfen.“1

Mutter Pia war in vielerlei Hinsicht eine Prophetin: in Bezug auf die damals aufkeimende Ökumene und die Nützlichkeit, die einfache Botschaft der Liebe und Hingabe von Schwester Maria-Gabriella zu verbreiten, aber auch in Bezug auf ihren eigenen Tod und dabei erfahrene Unmöglichkeit, bei ihrer Gemeinschaft in Vitorchiano zu sterben, ihre Gemeinschaft, die 1957 von Grottaferrata dorthin umgezogen war. Und wir wissen nur zu gut, dass Propheten nie ein leichtes Leben haben.

 

Ihr Leben

Maria Elena Gullini wurde am 16. August 1892 in Verona geboren, wo ihre Familie wegen der Arbeit ihres Vaters mehrere Jahre lang wohnte. Sie gehörte einer Familie des gehobenen Bürgertums in Bologna an. Ihr Vater Arrigo war Ingenieur bei der Eisenbahn: Er arbeitete in Italien und Montenegro. Er ließ sich mit seiner Familie in Rom nieder, wahrscheinlich wegen des Universitätsstudiums seiner drei Kinder. Er war stellvertretender Direktor der Staatseisenbahnen und Präsident und Verwalter der wichtigen Gesellschaft der Werften von Genua, der Ansaldo.

Die Mutter Celsa Rossi zeichnete sich durch ihre außergewöhnliche Schönheit, Güte und Intelligenz aus. In ihrer Jugend hatte sie über eine religiöse Berufung nachgedacht, konnte diese jedoch nicht verwirklichen; sie war sehr fromm, lebte ihren Glauben intensiv und versuchte, ihn an ihre Kinder weiterzugeben. Da sie zurückhaltend war und alles Eitle nicht mochte, ließ sie sich gerne von ihrer älteren Tochter, die schön und unternehmungslustig war, bei den weltlichen Verpflichtungen vertreten: Maria begleitete ihren Vater also zu den verschiedenen Empfängen und Mahlzeiten der feinen Gesellschaft.

Eine Freundin berichtete, dass im Büro des Ingenieurs Gullini ein großes Ölporträt von Maria in schwarz-weißer Abendgarderobe mit tiefem Ausschnitt und nackten Armen hing – sehr zum Missfallen ihrer Mutter –, ein Porträt, das den Platz verriet, den die älteste Tochter im gesellschaftlichen Leben ihres Vaters einnahm. Mutter Pia erzählte, dass sie auf einem Ball plötzlich ihre Unzufriedenheit mit nichtigen und vergänglichen Dingen erfuhr und so den Entschluss fasste, einer Ordensberufung zu folgen.

GulliniMaria2Von ihrem achten bis achtzehnten Lebensjahr war sie in Venedig bei den Sacré-Coeur-Schwestern zur Schule gegangen und hatte dabei die Bildung genossen, die damals den Töchtern aus gutem Hause zuteil wurde. Der Unterricht wurde auf Französisch gehalten. Mit ihrem künstlerischen Temperament zeichnete sich Maria in Musik und Malerei aus. Mit zehn Jahren empfing sie von Patriarch Joseph Sarto, dem späteren Pius X., die Erstkommunion. Im Alter von 12 Jahren geriet sie durch eine tuberkulöse Bauchfellentzündung in Lebensgefahr, die sie ihr ganzes Leben lang anfällig für Ermüdungserscheinungen machte. Sie war sehr lebhaft, stolz und aufmüpfig, sogar aufbrausend, freiheitsliebend, mit offensichtlichen „Führungsqualitäten“; sie liebte die Natur, hatte tiefes Mitgefühl für die Leiden anderer und die Bedürfnisse der Armen, war geradlinig und loyal, ohne die geringste Spur von Ängstlichkeit. Ihre Sommerferien verbrachte sie in der Villa des Familienguts in der Nähe von Bologna oder in Montenegro. Wegen der Arbeit ihres Vaters war sie Patin bei der Einweihung von Eisenbahnabschnitten und auf Familienfotos ist sie mit Blumensträußen in der Hand zu sehen, während sie ein Band durchschneidet. Entfernte Verwandte oder Bauern erinnern sich noch daran, wie das „Fräulein“ in das Landhaus der Großeltern kam und wie einfühlsam sie sich um deren materielle und geistige Bedürfnisse kümmerte.

Sie lernte zusammen mit ihrem Vater Englisch und Deutsch nach der Berlitz-Methode – eine Neuheit zu jener Zeit! – und mit einem „Teacher“, der für den praktischen Unterricht zu ihr nach Hause kam. Als Sportlerin liebte sie Schlittschuhlaufen und Reiten und besuchte die Reitställe in Rom. Nach dem Ausbruch des Krieges hatte sie den Krankenpflegekurs in „La Samaritana“ absolviert, mit dem Wunsch, an die Front zu gehen und verwundete Soldaten zu pflegen. Ihr Vater war gegen dieses Vorhaben. Maria ging fast jeden Morgen mit ihrer Mutter in die Messe und unterrichtete die Kinder in der eleganten Gemeinde San Camillo und in der ländlichen Gemeinde Sankt Helena im Prenestino, die sie liebte, im Katechismus. Durch den Umgang mit den Kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt in der Via Nino Bixio begleitete sie diese oft und half ihnen bei der Armenfürsorge.

Heiratsanträge, die ihr gemacht wurden, lehnte sie regelmäßig mit Argumenten ab, welche die Familie verstimmten: „Nein, der ist nicht schön! Ihm fehlt es an Feingefühl! Er ist zu groß! Er ist zu klein!“ Die Bewerbung eines „idealen“ Partners stimmte sie um und sie verlobte sich – wenn auch nicht offiziell – mit einem sehr sympathischen jungen Ingenieur aus Venedig. Als dieser als Offizier an die Front musste, wollte er, dass ihre Verbindung geklärt würde. Daraufhin antwortete ihm Maria, die sie sich ihrer religiösen Berufung bewusst geworden war und ihn nicht heiraten würde.

Ihr Beichtvater und geistlicher Begleiter war der bekannte Pater Di Lorenzo vom Heiligen Sakrament; er war derjenige, der sich am meisten gegen ihren Eintritt in den Trappistenorden wehrte. Er meinte, bei ihrem überschwänglichen und zur Selbstständigkeit neigenden Temperament sei es unmöglich, dass Maria das Schweigen und den Gehorsam der Trappisten wähle. Später wurde er zu einem eifrigen Gast in Grottaferrata. Im Übrigen hatte Maria Gullini anfangs nicht die geringste Absicht gehabt, in den Trappistenorden einzutreten. Der Dienst und die Fürsorge für die Armen zogen sie zunächst in eine aktive Kongregation. Trotz des Widerstands ihrer Familie hatte sie um die Aufnahme bei den Kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt gebeten. Sie war groß, schön, lebenslustig und intelligent, hatte aber zu viele außergewöhnliche Eigenschaften, um „sic et simpliciter“ angenommen zu werden. Mutter Therese, die Oberin, schickte sie daher zu Dom Norbert Sauvage, dem Prokurator der Trappisten, um Rat zu suchen, und dieser verhalf ihr zu einem achttägigen Rückzug in den Trappistenkloster Grottaferrata in Klausur. Das war am 14. November 1916 und Maria schrieb:

„Ich mache diese Exerzitien, indem ich für die Sünder bete: Was das Ergebnis betrifft, Herr, inspiriere den Vater und ich werde tun, was er mir sagt.“

Dom Norbert, der ihr zu Beginn der Exerzitien angekündigt hatte: „Wir werden über Jesus Christus sprechen“, sagte zu ihr:

„Fräulein, es scheint mir, dass Sie zu einem Leben der Liebe berufen sind; Jesus scheint von Ihnen das vollständige Opfer zu wollen. Ihre Natur will das aktive Leben, Ihre Seele verlangt und fordert das kontemplative Leben.“

Er schlug ihr unverblümt den Trappistenorden vor. Aber nicht an diesem Ort.

„In Laval, einem der ersten Klöster des Ordens, gibt es achtzig Nonnen, darunter viele junge Menschen. Ein Teufel wie Sie wird in einer solchen Masse von Nonnen nicht allzu sehr auffallen.“

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Dom Norbert daran dachte, Maria Gullini eine solide klösterliche Ausbildung zukommen zu lassen. Später sollte sie dann nach Grottaferrata zurückkehren, um die dortige Gemeinschaft zu leiten, aber die Dokumente geben in dieser Hinsicht keine eindeutige Klarheit.

Sicher ist jedoch, dass von diesem Zeitpunkt an für Maria eine Zeit des Kampfes begann: mit ihren Eltern, mit ihrem Beichtvater und anderen Priestern, die Dom Norbert beschuldigten, ihr den Kopf verdreht zu haben, aber vor allem mit sich selbst, die sich nicht der Gnade ergeben wollte. Das Ergebnis dieses Kampfes war der Sieg ihres „süßen Herrn“ und Marias Einzug in Laval am 28. Juni 1917. Die ungehemmte Art des Mädchens verwirrte allerdings die Nonnen in Laval, wie sie auch schon die Nonnen in Grottaferrata verblüfft hatte. Aber ihre Berufung war offensichtlich, wie auch der gute Wille der Kandidatin. Aus diesem Grund geduldete man sich auf beiden Seiten. Am 29. September 1917 legte Schwester Pia – diesen Namen hatte sie in Erinnerung an den Papst erhalten, der ihr in Venedig die Erstkommunion gespendet hatte – das Trappistengewand an; am 16. Juli 1919 legte sie ihre ersten Gelübde ab und drei Jahre später, am selben Tag, ihre ewige Profess ab.

GrottaIm Jahr 1923 wurde sie zur Leiterin der Konversenschwestern ernannt, von denen es etwa 40 gab. Eine Konversenschwester beschrieben sie so:

„Mutter Pia wurde fast sofort nach ihrer Profess Mutter Meisterin. Die Ehrwürdige Mutter Lutgarde2 hatte Vertrauen zu ihr; sie sagte, dass Mutter Pia, abgesehen von einigen äußerlichen Mängeln, vollkommen sei. Ich habe sie am meisten geliebt; sie hat mir am meisten Gutes getan: Ich war entzückt, sie von Jesus sprechen zu hören und ihren Glaubensgeist zu sehen...“

Sie glühlte in ihrer Gottesliebe und sie liebte die Regel. Sie ging, um die alten Schwestern zu waschen und ihre Betten vor vier Uhr zu richten. Sie hatte nie im Garten gearbeitet, aber sie kam mit den Schwestern zum Umgraben und dankte ihnen danach... Sie hatte für alles gute Eigenschaften... Ihre Mutter Meisterin erinnerte an ihre extreme Einfachheit und beschrieb sie als großmütige, feurige Seele, die zu allen Opfern fähig war.

1923 bat Mutter Agnes Scandelli, die Äbtissin von Grottaferrata, in Laval um personelle Hilfe für die sehr arme italienische Gemeinschaft gebeten. Die Äbtissin von Laval, Mutter Lutgard, konnt ihr personelle Hilfe – widerwillig – erst drei Jahre später geben! Und diese Hilfe war natürlich die Italienerin Mutter Pia: „Wir bringen ein großes Opfer und Mutter Pia auch; aber wir wollen dem lieben Gott nichts abschlagen.“ 3 Es gab noch einen weiteren Grund für die Rückführung der jungen Nonne: Mutter Pia litt an einer beginnenden Tuberkulose und man hoffte, dass ein Luftwechsel ihr guttun würde, was auch tatsächlich geschah, wenn auch langsam. Mutter Pia kam am 9. November 1926 in Grottaferrata an. Der harte Abschied von „ihrem“ Kloster in Laval war sehr schmerzhaft, und die Eingliederung in ihre neue Gemeinschaft alles andere als leicht. Die neue Schwester, die aus einer anderen Kultur und Bildung stammte, kränklich war und außergewöhnliche menschliche Gaben besaß, rief zunächst Ablehnung hervor. Ihre Entscheidung, im darauffolgenden Jahr ihre Stabilität auf Grottafarrata zu übertragen, hatte unter den gegebenen Umständen etwas Heroisches an sich.

Die „Chroniken“ sprechen auch vom Druck seitens ihrer Eltern, sie nach Italien zurückzuholen.4 Aber aus einigen Briefen und anderen Dokumenten lässt sich ein diskretes Drängen seitens der höheren Oberen im Trappistenorden herauslesen, die sich um die Zukunft von Grottaferrata sorgten. Dort gab es keine Schwestern, die die Nachfolge der alten und kranken Äbtissin hätten antreten können. Nachdem sie ihr Kloster in der inneren Bereitschaft zu einem vollständigen Opfer verlassen hatte – „ein Opfer kann man nie ablehnen ... ich werde gehen, wohin Gott mich ruft“ –, überwand Mutter Pia ihre Sehnsucht, nach Laval zurückzukehren, und ebenso das Drängen der Gemeinschaft von Laval, sie zurückzuholen: Sie setzte jedoch den Briefwechsel mit ihrer geliebten Mutter Lutgarde bis 1942 und mit der Gemeinschaft bis drei Jahre vor ihrem Tod fort.

Die sehr schwierige Situation der Gemeinschaft in Grottaferrata, die sehr an ihrer Äbtissin hing, belastete Mutter Pias ohnehin schwache Gesundheit zusätzlich. 1928 verschlimmerten sich ihr Leberleiden so sehr, dass sie sich einem damals recht heiklen chirurgischen Eingriff unterziehen musste, der sie für einige Tage in Lebensgefahr brachte.

Zu diesem Zeitpunkt bot eine Konvertitin unter den älteren Schwestern ihr Leben für die Genesung ihrer jüngeren Mitschwester an. Diese erholte sich nach einem Aufenthalt bei ihrer Familie, war Subpriorin, Krankenschwester und schließlich Priorin und zeigte Mutter Agnes gegenüber völligen Gehorsam, obwohl sie unter vielen Dingen litt, die in der Gemeinschaft hätten geändert werden müssen, aber laufen ließ.

1931 reichte Mutter Agnes Scandelli nach 33 Jahren als Oberin ihr Rücktrittsgesuch ein. Mutter Pia wurde daraufhin durch päpstliche Entscheidung zur Äbtissin ernannt, und zwar aufgrund eines Dekrets von Kardinal Lega, Bischof von Frascati, das das Datum des 30. Dezember 1931 trägt. Eine reguläre Wahl war aufgrund der Zuneigung der Nonnen zu ihrer ehemaligen Oberin nicht möglich gewesen. Es ist nicht schwer, sich den Mut und den Glauben vorzustellen, die in einer so besonderen Situation erforderlich waren: Doch Mutter Pia gewann die Achtung und die Liebe der Gemeinschaft, die sie bei den Wahlen von 1935 und 1938 fast einstimmig bestätigte. Wie sie sagte, wollte sie aus Grottaferrata ein Trappistenkloster machen, „wie ich es selbst erleben durfte“, womit sie ihr geliebtes Laval meinte.

Obwohl die Klostermauern selbst von Gebet und Opfergeist durchdrungen waren, ähnelte Grottaferrata von seiner Anlage her eher einer franziskanischen als einer zisterziensischen Gemeinschaft. Ein Umbau war wegen der Armut schwierig – oft wurde die monatliche Rechnung des Bäckers von der Familie Gullini bezahlt –, wegen der geringen Größe und Produktivität des Anwesens (zweieinhalb Hektar), wegen des ungeeigneten Hauses, der geringen Anzahl von Chorschwestern, der feindseligen Haltung einiger Schwestern und später wegen der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs.

Als Schwester Maria-Gabriella 1939 starb, begann für Grottaferrata und seine Äbtissin eine sehr fruchtbare, aber auch sehr stürmische Zeit. Im Dezember 1940, also vor dem Ende ihres dritten Trienniums, war Mutter Pia gezwungen, ihren Rücktritt einzureichen. Die Schwierigkeiten – der Fall war nicht neu, da es sich um eine intelligente Frau mit starkem Willen handelte – kamen vor allem von den männlichen Vorgesetzten. Bei den Entscheidungen, die zu ihrem Rücktritt führten, spielten neben den unterschiedlichen Ansichten über die Führung der Gemeinschaft wahrscheinlich auch die Korrespondenz über die Ökumene und die Veröffentlichung der Biografie von Schwester Maria Gabriella5 eine Rolle – eine Haltung der Offenheit, die nicht von allen verstanden oder akzeptiert wurde!

Die ausgezeichnete Mutter Tecla Fontana, die ihr in der Leitung der Gemeinschaft folgte, vertraute ihr das Noviziat an, und Mutter Pia widmete sich als gute Erzieherin, die sie war, mit Freude der Ausbildung junger Menschen, während sie ihre enorme Korrespondenz und ihre ökumenischen Beziehungen fortsetzte.

Sechs Jahre später, 1946, wurde sie erneut zur Äbtissin gewählt und bereits bei der ersten Wahl 1949 durch ein fast einstimmiges Votum bestätigt. In jenen Jahren behielt sie auch die Leitung des Noviziats. Unversöhnliche Widerstände, wenn auch nur in sehr geringer Zahl, blieben jedoch bestehen: Mutter Pia hoffte auf die Unterstützung des neuen Generalabtes und des neu ernannten Oberen von Frattocchie, um eine Gründung zu beginnen, an die sie seit Jahren dachte. Doch 1951, noch vor dem Ende ihres Trienniums, brach eine Krise aus, die schon lange geschwelt hatte. Am 19. April versammelten der Obere (der noch nicht zum Abt gewählt war) und der unmittelbare Vater, der Abt von Mont-des-Cats, die Gemeinschaft nach dem Stundengebet der Non und verkündeten, dass Mutter Pia „aus besonderen Gründen“ resigniert und die Gemeinschaft bereits verlassen habe.

Mutter Tecla würde die Zügel der Gemeinschaft als Oberin ad nutum übernehmen. Es war ein Donnerschlag in einem heiteren Himmel: Fast die gesamte Gemeinschaft verstand nie die wahren Gründe für diesen Weggang.

Mutter Pia wartete in Rom bei den Ursulinen auf ihren Pass. Ich sah sie in diesen Tagen, die sehr traurig gewesen sein müssen, ruhig und besänftigt: Sie wirkte wie ein königlicher Gast und nicht wie eine Schwester auf einer Reise ins Exil6! Sie ging in die Abtei La Fille-Dieu und sollte dort acht Jahre lang bleiben, bis sie nach Italien zurückgerufen würde. 1953 wurde ihr nicht gestattet, in ihr Heimatland zurückzukehren, weder für die Wahl der Äbtissin noch zu den politischen Wahlen, obwohl zwei andere italienische Schwestern, die im Schweizer Kloster lebten, aus diesen Anlässen zurückkehren durften.

Lassen wir uns nun von den Schwestern von La Fille-Dieu beschreiben, wie sie während ihres Aufenthalts erlebt wurde:

„Mutter Pia war die Güte selbst: Ihre Freundlichkeit, ihr lächelndes Gesicht taten uns gut. Wir trafen uns gerne mit ihr, denn ihre großen Gesten schienen uns in ihr Herz einzuhüllen. Sie hatte großes Mitleid mit den Leidenden: Sie hätte sie gerne getröstet, ihnen geholfen ... Ihr Glaubensgeist führte sie zu Jesus Christus: Sie wäre stundenlang in der Nähe des Tabernakels geblieben. Sie war eine große Schweigerin, blieb mit dem lieben Gott vereint und lebte in seiner Gegenwart. Ihr künstlerisches Talent leistete uns große Dienste... – Sie verbrachte acht Jahre in La Fille-Dieu und gab das Beispiel einer vollkommenen Ordensfrau; sie war eine großzügige Seele mit einem sehr großen Glaubensgeist, einer vollkommenen Nächstenliebe und voll von wahrhaft mütterlicher Zartheit, ein Herz aus Gold, das nur daran dachte, Freude zu bereiten. Sie war eine stille Seele: Für sie war das Schweigen eine Audienz der Liebe mit unserem Herrn. Mein ganzes Leben lang werde ich Ihm dafür danken, dass ich in Kontakt mit ihr gelebt habe. Sie trat in den Hintergrund, suchte unbemerkt zu bleiben. In allen Tugenden gab sie ein Beispiel und ging bis zum Heroismus. Eine große Nonne: unser wandelndes Te Deum...“7

VitorchianoWährenddessen trat in Italien die 1953 gewählte Äbtissin, der wir den Umzug der Gemeinschaft von Grottaferrata nach Vitorchiano verdanken, 1958 aus gesundheitlichen Gründen zurück. Eine Oberin ad nutum wurde ernannt. Für 1959 wurde die Wahl einer neuen Äbtissin angesetzt und Mutter Pia wurde offiziell vom Abt des Mutterklosters nach Vittorchiano zurückberufen. Wir wissen nicht, ob diese Rückberufung im Hinblick auf die bevorstehende Wahl geschah oder mit der Absicht, dass Mutter Pia in Zukunft eine untergeordnete Rolle einnehmen sollte. Auf jeden Fall wünschte die große Mehrheit der Gemeinschaft ihre Rückkehr, und die Oberen, die sie früher abgesetzt hatten, unterstützten nun ihre Rückkehr. Aber wer war sich bewusst, dass Mutter Pia zu diesem Zeitpunkt schon an der Schwelle zum Tod stand? Dass angesichts ihres Gesundheitszustands allein schon die Anreise aus der Schweiz sehr anstrengend sein würde? Wie auch immer, es war nicht ihre Aufgabe, zu entscheiden, sondern nur zu gehorchen: Sie ging, sehr müde, aber gelassen.

Am 22. Februar 1959 verließ sie das Kloster, das sie aufgenommen hatte und in dem sie sterben wollte. Am 25. Februar wurde sie auf Intervention ihres Bruders, der Arzt war und von ihrem schlechten Aussehen entsetzt war, in die Poliklinik in Rom eingeliefert, wo man ihr noch viele Bluttransfusionen verabreichte. Es wurde ein Tumor in einem sehr fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert: Außerdem waren die Nieren, das Herz und andere Organe irreparabel geschädigt. Mutter Pia nahm die Pflege und Aufmerksamkeit, die man ihr zuteil werden ließ, mit distanzierter Dankbarkeit, mit Ruhe und einem Lächeln an.

GulliniMPiaAm 15. April wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen und bei den Schwestern von Bethlehem aufgenommen, wo sie eine nunmehr nutzlose Therapie fortsetzen sollte, bis sie nach Vitorchiano reisen konnte. Ihr war klar, dass sie keine Führungsaufgaben hätte übernehmen können; sie spürte, dass sie sich ihrem Tod näherte. Sie sah – und sie sagte es mit königlicher Ruhe und Distanz –, dass sie niemals lebend zu ihrer Gemeinschaft zurückkehren würde: „Ich werde zum Herrn gehen, bevor ich zurückkehre“, sagte sie.

Da ich wusste, dass sie im Krankenhaus lag, besuchte ich sie; sie saß in einem Sessel. Dieser Besuch hat mich sehr beeindruckt. Kein Wort über die Vergangenheit, kein Wort über die Zukunft, kein Zeichen von Freude – nicht einmal ein leises –, die jemand in ihrer Situation empfinden könnte, denn der Rückruf nach Italien war schließlich eine Rehabilitation.

Ihre Rückkehr nach Vitorchiano war für den 5. Mai 1959, am Tag Christi Himmelfahrt, geplant. Sie starb an einem Herzversagen am 29. April, dem Tag, an dem der Orden nach dem damaligen liturgischen Kalender den Jahrestag der Geburt des heiligen Robert, ihren Lieblingsheiligen unter den Gründern von Cîteaux, im Himmel feierte. Wahrscheinlich identifizierte sie sich mit seiner Suche, seinem Wunsch nach einer Klostergründung und seinem Verzicht.

Mutter Pia war 67 Jahre alt und seit 40 Jahren im Orden. Sie war die erste Schwester, die auf dem neuen Friedhof in Vitorchiano beerdigt wurde, gemäß der Vorhersage, die sie einer italienischen Nonne von La Fille-Dieu gemacht hatte.

 

1 Soweit nichts anderes angemerkt ist, entstammen alle Zitate aus Dokumenten, die im Archiv der Abtei Vitorchiano aufbewahrt werden.
2 Lutgarde Hémery war Äbtissin von Laval von 1900 bis 1944.
3 Brief von Äbtissin Lutgarde an den Generalabt vom 24. Oktober 1926.
4 Chroniken von Vitorchiano 1875-1975, S. 142.
5 M. della Volpe, La strada della gratitudine, Jaca Book, Mailand, 2. Aufl. 1996.
6 E. Francia, Lettere e scritti di Madre Pia, Roma, 1971, S. 92.
7 Briefe der Schwestern von Fille-Dieu, 1959.