Bernhard A. Eckerstorfer OSB
Rektor der Päpstlichen Hochschule St. Anselmo, Rom
Theologische Bildung
und klösterliche Erneuerung
Blicken wir auf theologische wie monastische Neuerscheinungen, so ist auffallend, dass sich ein großer Teil von ihnen mit den Herausforderungen unserer Zeit beschäftigt. Ohne Zweifel sind wir mit einem Wandel konfrontiert, der für viele sogar eine Wende zu einer neuen Epoche anzeigt. So wie die Kirche als Ganze streben auch Klöster nach zukunftsträchtigen Wegen. Ihre Suche gestaltet sich dort besonders dringlich, wo es um den Fortbestand einer Gemeinschaft geht. Aus dieser Perspektive heraus sind Fragen zur benediktinischen Ausbildung hochaktuell und damit brisant; an ihnen zeigt sich, ob und wie klösterliche Erneuerung gelingen kann.
Das vorliegende Themenheft der AIM verwendet im Haupttitel das Signalwort „heute“. Monastische Formation war natürlich immer bemüht, das benediktinische Leben im wachen Bewusstsein der jeweiligen Gegenwart weiterzutragen. Oft galt freilich über längere Phasen hinweg ein einziges Modell als tragfähig, weil es auch im kirchlichen und gesellschaftlichen Verlauf eine starke Kontinuität gab, die viele Generationen umfasste. Unsere Situation ist dagegen unübersichtlich: Inmitten eines Epochenwandels tragen bisherige Selbstverständlichkeiten nicht mehr, neue Paradigmen haben sich jedoch noch nicht etabliert und niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Wir alle spüren und erleben, dass neue Wege unvermeidbar sind. Doch was wird sich wirklich als zielführend herausstellen?
Ich bin der Überzeugung, dass in der derzeitigen Lage die Theologie ein entscheidender Faktor für die benediktinische Ausbildung und die Neuausrichtung unserer Gemeinschaften ist. Aber wir sollten ebenso sehen: Auch das Mönchtum könnte eine wichtige Rolle für eine erneuerte Theologie haben. So wie in der Politik, im gesellschaftlichen und kulturellen Leben eine Orientierungslosigkeit festzustellen ist und es gar zu Abbrüchen ehemals tragender Institutionen und von allgemein akzeptierten Denkweisen kommt, ist auch in Kirche und Theologie ein Übergang festzustellen. Das Wort Krise ist in diesen Zusammenhängen in aller Munde, und die ursprüngliche Bedeutung kann für unser Thema aufschlussreich sein: Sie meint und fordert im Grunde Unterscheidung und Entscheidung.
Ich möchte das mir gestellte Thema in drei Punkten behandeln. Zuerst soll die klösterliche Initiation in ihrer Bedeutung und Gestalt gesehen werden; ich war zwölf Jahre Novizenmeister und habe durch meinen eigenen Werdegang die Notwendigkeit grundlegender Einführungen selbst erlebt. Sodann möchte ich monastische Praktiken als theologische Vollzüge deuten, um schließlich die Rolle der Universität für die Erneuerung benediktinischen Lebens darzustellen.
Klösterliche Ausbildung als theologischer Vorgang
Gerade im Kloster sehen wir, dass die Vermittlung des Glaubens im Grunde eine Einübung in eine bestimmte Lebensform bedeutet. In einer homogenen religiösen Gesellschaft sind ihre Ansichten und Lebensvollzüge selbstverständlich, weil sie von der Mehrheit geteilt und mitgetragen werden. Treten wir aber in eine pluralistische Welt ein, in der der Glaube gar zur Option geworden ist, müssen wir bislang automatische Vorgänge eigens thematisieren, um sie nicht zu verlieren und ihnen durch die Übersetzung in gegenwärtige Kontexte eine neue Fassung zu geben.
Kommt jemand ins Kloster, beginnt ein vielschichtiger Lernprozess. Eingebettet in gemeinschaftlich gepflegte Praktiken wird in den ersten Jahren manches bewusst gemacht, d.h. reflektiert und damit auch hinterfragt. Das ist wichtig für die Aneignung, die gemeinschaftlich eingebettet, aber individuell gestaltet sein muss. So erneuert sich mit jeder Person, die in den Konvent aufgenommen wird, das klösterliche Leben. Dieses wird im Prozess der gemeinschaftlich-individuellen Aneignung aktualisiert, mit dem Lebensgefühl der Gegenwart erfüllt und damit lebbar gehalten.
Einführung ins benediktinische Leben ist ein theologischer Vorgang. Das Mönchtum verstand den einzelnen Mönch schon immer als Gottsucher, der zur Lebensform auch eine entsprechende Denkform braucht. Um ein Theologe im ursprünglichen Sinn zu sein, muss jemand kein Doktorat einer Theologischen Fakultät haben. Es sind die geistlich und geistig kompetenten Personen, die ein „theologisches“ Leben führen und andere mit diesem vertraut machen. Die Bedeutung einer grundlegenden Einführung möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung illustrieren: Als ich mit 29 Jahren nach langen Studien im In- und Ausland ins Kloster eintrat, meinten Abt und Novizenmeister: „Du hast schon ein Doktorat in Theologie mitgebracht. Was sollen wir dich da noch lehren?“ Sie nahmen etwa an, ich könnte sofort bei einem Pontifikalamt ohne Weiteres ministrieren. Ich war aber nie Ministrant gewesen und von Pontifikalien hatte man mir in meinen Spezialstudien über protestantische Theologie in Nordamerika nichts vermittelt! So war ich ahnungsloser und ungeschickter als mein Co-Novize, der direkt von der Klosterschule ins Noviziat übergewechselt war.
Mein Kloster hatte die Bedeutung meiner universitären Studien für das Klosterleben überschätzt und die Notwendigkeit einer klösterlichen Initiation für einen jungen Theologen unterschätzt. Diese geschieht vor allem durch Nachahmung. In jedem Konvent gibt es ältere Mitbrüder oder Mitschwestern, die jahrzehntelang treu ihren Weg gehen und als geistlich Kundige zu Vorbildern des Nachwuchses werden – mehr durch ihr Sein als durch ihr Tun, mehr durch selbstverständliche Haltungen als durch viele Worte. Wenn ich auf meine ersten Klosterjahre zurückblicke, waren sie meine Meister, auch der genannte Abt und der Novizenmeister, die sich selbst nicht als große Theologen verstanden.
Freilich musste ich meine neue Identität erst begreifen lernen, d.h. auch denkerisch nachvollziehen. Mir war es im Noviziat geschenkt, neben anderen grundlegenden Werken einen großen Teil der Schriften meines neuen Namenspatrons Bernhard von Clairvaux lesen zu können. Das war ein neues Lernerlebnis! Ich konnte lesen ohne den Druck, das Gelesene für Prüfungen oder akademische Arbeiten verwerten zu müssen. Die großen Gestalten des Mönchtums und der Geistesgeschichte richtig lesen zu können, auch das erschloss sich für mich nicht automatisch. Es war ein Segen, dass ich gleich nach dem Noviziat für zwei Jahre nach Sant’Anselmo geschickt wurde, wo schon über 100 meiner Mitbrüder über Jahrzehnte hinweg studiert hatten. Das Credo unseres damaligen Abtes: „Jeder Mitbruder soll, wenn er will, die Möglichkeit haben, wenigstens ein Semester in Sant’Anselmo zu leben.“
Ich begegnete in Rom einer für mich neuen Form von Theologie. Plötzlich betete und aß ich mit Professoren und Studenten. Das Geheimnis einer benediktinischen Schulung: Lebensform und Denkform fließen ineinander. Hier nun stand allerdings die theologische Reflexion benediktinischen Lebens im Vordergrund. Sie erschloss sich mir durch einige Lehrveranstaltungen, mehr noch aber durch die persönliche Betreuung benediktinischer Theologen, die mir dabei halfen, meine bisherige theologische Ausbildung in mein monastisches Leben zu integrieren. Genau dieses Ineinanderfließen von konkretem Lebensstil und tieferem Verstehen zeichnet das mönchische Leben aus, das in den Anforderungen gerade der heutigen Zeit nicht bestehen kann, wenn es in unverbundene Sektoren aufgespalten ist.
Kurz vor meiner Ewigen Profess geriet ich in eine Krise; andere Daseinsweisen waren für mich plötzlich attraktiv, meine vier Jahre als Mönch schienen ein Experiment mit Ablaufdatum zu sein. Rückblickend betrachtet ist mir bewusst, dass meine Entscheidung für die Ewige Profess wesentlich auf die theologische Durchdringung meiner neuen Lebensform samt dem Kontakt mit dem weltweiten Mönchtum zurückzuführen ist, wie sie mir besonders durch die beiden Jahre in Sant’Anselmo zuteil geworden war.
Konkrete Einübung monastischer Praktiken
Die Keimzellen benediktinischer Erneuerung sind die klösterlichen Praktiken, die neu gehoben, verstanden und trainiert werden müssen. Klösterliche Formation geht dann ins Leere, wenn sie zu viel voraussetzt. Nichts darf mehr selbstverständlich sein, wenn wir mit jungen Mitgliedern in unseren Konventen zu tun haben! Setzen wir grundlegend an, müssen wir sehen, dass banal scheinende Erfahrungen des Alltags reflektiert werden müssen. Welche Formen erfüllen wir? Welche Rhythmen und Strukturen geben uns Halt? Der mönchische Stil wird nicht nur nachgeahmt, sondern auch in seiner Bedeutung erfasst und – in weiterer Folge – hinterfragt und so modifiziert, wir können auch sagen: verwandelt. Dazu braucht es eine Mystagogie monastischer Praktiken, in denen grundlegende Elemente in ihrer reichen Tradition erschlossen, aber auch ins Heute übertragen werden: Stabilitas und conversatio, klösterliche Zelle und weiträumige Klosteranlage, Lesung und Selbstdisziplin, Einsamkeit und Gemeinschaft, …
Eine zentrale monastische Kompetenz besteht darin, wieder lesen zu lernen. Weltweit ist nicht abzusehen, was die digitale Revolution für unsere Kulturen bedeutet, wie sie unsere Gesellschaften verändern wird. Auch für das Mönchtum mag sie Chancen bergen. Wir dürfen aber die Augen nicht davor verschließen, dass sie einen Zugang zur Wirklichkeit auferlegt, der dem benediktinischen Geist fremd ist. Die social media basieren auf knappen, mit Zeichen und Abkürzungen versehenen Botschaften, die nur für eine kurze Dauer aktuell sind, oft nur vorübergehend abrufbar. Der digitale Weltzugang kann mit dem nachdenklichen Vorgang des mühsamen Verfassens ausgefeilter Schriften und mit der herkömmlichen Buchkultur wenig anfangen. Können Klöster aber darauf verzichten?
In der lectio wird den jungen Mitbrüdern und Mitschwestern neben den religiösen Inhalten auch eine theologische Fertigkeit vermittelt: eine Stunde oder wenigstens eine halbe Stunde ausschließlich an einem Text verweilen zu können – jeden Tag, über Monate und Jahre hinweg! In der meditatio sedimentiert sich die Leseerfahrung, die zur Weisheit wird. Sapientia kommt von sapere, was wir mit schmecken und verkosten übersetzen können. Das ist dann auch die Grundlage für die oratio. Aber wieviel Geduld und Ausdauer braucht es dazu, gerade in einer technologisch hochgerüsteten Welt! Der Noviziatsunterricht muss dazu anhalten, theologische Texte zu lesen, die dann diskutiert werden. Hier kommt es nicht sogleich auf die eigene Meinung an, sondern zuerst einmal muss der Text erfasst worden sein: „Was sagt der Autor?“
Klösterliche Ausbildung muss eine tiefere Erfassung der Wirklichkeit ermöglichen und dem ständigen Herumspringen zwischen vorbeihuschenden Textfetzen eine ganzheitliche Leseerfahrung gegenüberstellen. Vielleicht lässt sich die Zukunftsfähigkeit unserer Klöster auch daran ablesen, ob die eigenen Buchbestände überhaupt noch genutzt werden oder die Bibliotheken zu Abstellräumen verkommen, bestenfalls noch als repräsentative Schauräume von einer versunkenen Vergangenheit lebendiger Gottsuche zeugen. Besteht ein theologischer Auftrag des Mönchtums für heute nicht wesentlich darin, die Kultur des Lesens neu zur Geltung zu bringen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Klöster in dieser Weise Bildungsträger wären.
Vom Kloster an die Universität und zurück
Mehr als dies früher der Fall war, sehen wir bei heutigen Kandidaten die Notwendigkeit einer Initiation in den Glauben. Der Mönch bildet sich, indem er die Haltung des verstehenden und verkostenden Lesens trainiert und einen ganzen Kosmos religiöser Sinnstiftung entdeckt. Ein erfahrener Theologieprofessor an einer staatlichen Universität sagte mir einmal: „Jene, die ein Noviziat hatten, studieren bei uns anders.“ Zumindest nach meiner Erfahrung in Mitteleuropa muss ich allerdings auch sagen, dass manche, die in unsere Klöster kommen, eine Abneigung gegenüber universitärer Theologie haben. Das kommt wohl einerseits von einer szientistischen Verengung, welche die Theologie erst dann als Wissenschaft sieht, wenn sie möglichst wenig mit dem gelebten Glauben zu tun hat. Andererseits offenbart sich hier aber auch das fehlende Bewusstsein, was die akademische Theologie für unsere Klöster leisten kann und muss.
Die theologische Lehre und Forschung an der Universität, die damit auch im Austausch mit anderen Disziplinen steht, bietet einen eigenen Rahmen für die skizzierte Einübung und Reflexion. Nach 20 Jahren in meinem Kloster in Österreich sehe ich nun wieder in Sant’Anselmo, welche Freiheit der akademische Rahmen eröffnet, in dem das Studium neben dem geistlichen Leben Priorität hat. So können sich einzelne Personen der philosophischen, theologischen und liturgischen Spezialisierung hingeben und sich mit ihren zuweilen ausgefallenen Themen gegenseitig befruchten. Die Coronakrise hat uns gezeigt, wie Bildungsvermittlung auch über die neuen Technologien stattfinden kann. Wir halten natürlich am direkten Unterricht fest, der eine persönliche Auseinandersetzung vor Ort umfasst und gerade die Stadt Rom sowie in ihr die Universalkirche als theologische Erfahrung aufleuchten lässt. Doch wir erweitern zunehmend auch unser online-Angebot, um Personen an der Lehre und Forschung von Sant’Anselmo Anteil zu geben, die nicht in die Ewige Stadt kommen können.
Wir sollten nicht unterschätzen, wie sehr die Arbeit an Ordenshochschulen oder staatlichen Fakultäten zur Lebendigkeit und Plausibilität unserer benediktinischen Existenz beiträgt. Meiner Beobachtung nach gehen monastische Neugründungen einher mit einer theologischen Neubesinnung, die zumeist an den Quellen des Mönchtums frisch anknüpft. So wie es das Zweite Vatikanum vorsah: Rückkehr zu den Quellen (ressourcement) verbunden mit der Suche nach Formen, die zu den heutigen Verhältnissen passen (aggiornamento). Die wissenschaftliche Theologie kann dazu Wesentliches beitragen. Der gelebte Glaube, wie er sich in den monastischen Praktiken äußert, braucht kritische Reflexion und die Hebung der reichen Tradition im Horizont unserer Zeit. Das bewahrt Klöster vor Einseitigkeiten, Devotismus und Ideologien aller Art.
Aber auch die Klöster haben mit ihrer theologischen Tradition der heutigen akademischen Welt viel zu sagen. Der Dekan einer theologischen Fakultät an einer staatlichen Universität beklagte sich kürzlich, dass die akademische Theologie in Gesellschaft und Kultur kaum noch wahrgenommen werde. Wir sehen jedoch, dass die säkulare Welt durchaus am gelebten Glaubenszeugnis interessiert ist. Wo die Theologie als geistgewirkte Glaubensart und Form des Gottesdienstes gesehen wird, sind gerade andere Disziplinen und die nach ansprechenden Alternativen ausschauenden Zeitgenossen durchaus interessiert. Zumindest für den mitteleuropäischen Raum kann ich sagen: Bei allen Krisen, die die Kirche und ihre herkömmliche Pastoral derzeit erfassen und von denen auch die Klöster nicht ausgenommen sind, ist das Interesse am benediktinischen Leben bei Gläubigen wie Skeptikern ungebrochen groß. Sie finden in Klöstern ihre Sehnsucht nach einem „anderen Leben“ verwirklicht und möchten inspiriert werden vom geistigen Reichtum und der geistlichen Kraft alter Traditionen. Das sollte uns in den Klöstern ermutigen, unsere benediktinische Lebensform mit der entsprechenden Denkform einzubringen, vom Noviziat bis zu unseren Ordenshochschulen. Das Mönchtum könnte so zu einer erneuerten Theologie innerhalb einer missionarischen Kirche beitragen, die laut Papst Franziskus nicht allein auf theologische Experten an den Universitäten und Bürokraten im kirchlichen Apparat setzen darf.