Jean-Pierre Longeat OSB
Präsident der AIM

Die Älteren ehren, die Jüngeren lieben

RB 4,70-71; 63,10

 

JPLongeat2018Zu Beginn wollen wir uns vor Augen führen, was der hl. Benedikt uns zu diesem Thema zu sagen hat. Benedikt achtet innerhalb der Gemeinschaft vor allem auf ein gesundes Gleichgewicht zwischen den Beiträgen von jüngeren und älteren Mönchen und Schwestern. Im vierten Kapitel über die Werkzeuge der geistlichen Kunst findet er dafür die Formulierung: „Die Älteren ehren, die Jüngeren lieben“. Damit will er das Zusammenleben in den Zustand gegenseitiger Aufmerksamkeit bringen.

Schon ganz zu Beginn der Regel wird der Mönch als Sohn beschrieben, der auf die Stimme seines Vaters hört. Damit greift Benedikt bekanntlich einen Vers aus dem Buch der Sprichwörter auf (Spr 1,8), aber es handelt sich vor allem um eine Grundhaltung, die sich in den Evangelien findet. Denn Jesus sieht sich selbst in einem kindlichen Verhältnis zu seinem Vater, der der Vater aller Menschen ist. Daher lädt er dazu ein, dass wir uns auch als geliebte Kinder des himmlischen Vaters begreifen. Es ist auch ganz unwichtig, welches Alter ein Mönch, eine Schwester oder jeder Christ aufweist: Sie alle sind Söhne und Töchter, die auf die Stimme dessen hören, von dem sie alles geschenkt erhalten haben.

Auch das siebte Kapitel der Benediktsregel über die Demut befasst sich mit diesem Thema. Es vergleicht den Mönch mit einem Kind, das vertrauensvoll im Schoß der Mutter sitzt. In dieser Haltung lauscht der Mönch auf die Stimme seines Gottes (Psalm 130). Wenn man über diese Worte nachsinnt, gerät man ins Staunen. Das Ziel klösterlichen Lebens besteht also darin, wie ein Kind in Gottes Schoß zu ruhen, so wie sich ein Kind bei der Mutter vertrauensvoll birgt, ohne dass man in Stolz und Ehrgeiz eigene Projekte verfolgt, die der Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins dienen. Diese Haltung des Vertrauens und Glaubens führt zunehmend zu innerer Reife. Dies drückt die zwölfte Stufe der Demut aus, wo es heißt, dass der „Mönch alsbald zu jener vollkommenen Gottesliebe gelangt, die alle Furcht vertreibt“ (RB 7,67). Darin liegt der eigentliche Weg alles klösterlichen Strebens begründet.

Die Schule, welche Benedikt für alle gründen will, welche bereit sind, sich auf einen solchen Weg einzulassen, lässt innerhalb der Vielzahl an Geboten eine Zielgerade erkennen: „Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes“ (Prol. 49). Natürlich gibt es keine Garantie, dass dies jederzeit und bei jedem eintritt, aber es ist auf jeden Fall die Vision, die uns Benedikt schenkt. Man kann auch nicht vom Äußeren darauf schließen, was sich im Inneren des Herzens abspielt. Gott allein weiß es.

Auf der Grundlage des Gesagten stellt Benedikt die Zönobiten als Anfänger dar (RB 1 und 73), die in den Reihen einer brüderlichen Armee kämpfen. Nach und nach lösen sie sich vom schlichten Eifer des Anfangs, um in den eigentlichen Kampf gegen innere Widerstände einzutreten, bis sie im Alter zunehmend selbstständig werden. Bei manchen führt dies sogar zur Option zugunsten eines eremitischen Lebens. Auch in unseren Klöstern lässt sich beobachten, dass der überwiegende Teil der Mönche in fortgeschrittenem Alter die Einsamkeit sucht, sei es in der Infirmerie oder auch noch als Teil des aktiven Klosterlebens. Auch wenn diese älteren Mitbrüder weiterhin Anteil am Gemeinschaftsleben nehmen, entwickeln sie vielfach eine gewisse Gelassenheit gegenüber den Alltagsgeschäften und helfen damit den Mitbrüdern, vor allem den jüngeren, sich gleichfalls etwas zurückzunehmen bei Auseinandersetzungen, Gegensätzen und den zwar nötigen, aber auch nur relativen Alltagsfragen. Diese innere Freiheit führt auch oft zu einem schönen Einklang zwischen älterer und jüngerer Generation, da erstere nichts mehr und die letzeren noch nichts zu verlieren haben.

Benedikt weiß sehr genau um die unterschiedlichen Beiträge der Generationen zum Gemeinschaftsleben. Daher ist ihm wichtig, dass in wichtigen Fragen die gesamte Gemeinschaft zu Rate gezogen wird (RB 3,1). Er findet dafür die Formulierung: „Dass aber alle zur Berufung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist“ (RB 3,3). Es tut gut, so etwas aus dem Mund eines erfahrenen geistlichen Lehrers wie Benedikt zu hören. Der Verfasser der Regel leitet nicht etwa aus der Gotteskindschaft eine unmündige Abhängigkeit ab, sondern kommt im Gegenteil zum Schluss, dass den Jüngeren in der Gemeinschaft gleichfalls besondere Aufgaben mit eigenen Schwerpunkten zukommen. Damit wird den infantilen Rollenspielen, die man in manchen kirchlichen Einrichtungen beobachten kann, eine Absage erteilt. Vor allem in den Klöstern der alten Welt erlebt man immer noch, dass selbst Mönche, welche die fünfzig überschritten haben, als Jungspunde angesehen werden, die sich keine eigene Meinung erlauben dürfen. Das führt dann auch zu Infantilismus, den man mit allen Mitteln bekämpfen sollte. Dies gilt um so mehr, als die sogenannten „Jungen“, die zur Gemeinschaft stoßen, heute vielfach schon erwachsene Menschen mit dreißig, vierzig oder noch mehr Jahren sind, die eine Vielzahl von Erfahrungen mitbringen.

Nachdem Benedikt in den ersten Kapiteln der Regel sein geistliches Programm entworfen hat, geht er zu praktischen Fragen über, bei denen die großen Grundlinien, die am Anfang behandelt wurden, zur Anwendung kommen.

NdandaDas lässt sich gut an Kapitel 22 sehen, in dem Benedikt die Bedeutung einer Mischung der Generationen anspricht, wenn es um die Nachtruhe der Gemeinschaft geht, die sich in Dormitorien abspielte: „Die jüngeren Mönche haben ihre Betten zwischen denen der älteren“. Damit sollen Verirrungen in den Beziehungen zwischen den jüngeren Mönchen verhütet werden, aber diesen auch Ermutigung durch das Beispiel der älteren geschenkt werden, die ihrerseits vom Schwung der Jugend profitieren sollen. Das wirkt heute vielleicht seltsam, weil wir zunächst einmal an den Missbrauch jüngerer Menschen durch ältere denken. Aber müssen solche Befürchtungen jeden Gedanken dominieren? Die gegenseitige Ermutigung der Generationen muss in irgendeiner Weise äußeren Ausdruck finden. Und jeder Ausdruck bringt auch die Gefahr eines Missbrauchs mit sich. Bei einer Klostergemeinschaft gibt es nun einmal auch die Möglichkeit homosexueller Grenzüberschreitungen, um vom Sonderfall klösterlicher Schulinternate ganz zu schweigen. Daher braucht es Wachsamkeit und Eingreifen, auch wenn sie nicht dazu führen sollten, dass darüber der reiche menschliche Austausch innerhalb einer Gemeinschaft beeinträchtigt wird.

Im Kloster Benedikts gab es auch Kinder, welche die Eltern den Mönchen zur Erziehung anvertraut hatten (so RB 59). Sie wurden wie erwachsene Mönche behandelt, wenn sie Fehler begingen. Zu den Strafen gehörte zunächst der zeitweise Ausschluss. Wenn ihnen diese Strafe nichts ausmachte, griff man zu handgreiflicheren Methoden. Dennoch glaubte Benedikt an die geistliche Formbarkeit dieser jungen Menschen, welche die Klöster bevölkerten und sicher nicht einfach zu begleiten waren (RB 20).

Das 68. Kapitel, welches die Aufnahme von Klosterkandidaten beschreibt, enthüllt uns zweifellos am ehesten, was Benedikt sich hinsichtlich der jungen Mönche wünscht. Zunächst einmal wird ihnen der Eintritt nicht leicht gemacht: „Man muss die Geister prüfen, ob sie von Gott sind“ (RB 58,2). Darin liegt auch eine Anfrage gegenüber der Leichtigkeit, mit welcher heute gelegentlich Kandidaten aufgenommen werden. Klosterleben stellt hohe Ansprüche und es braucht Prüfungen, damit bewusst wird, was auf dem Spiel steht.

Zur Zeit Benedikts wurde ein Kandidat zuächst einmal im Gästebereich aufgenommen. Wenn er beharrlich blieb, durfte er in den Bereich umziehen, der für Novizen gedacht war. Dort lebten sie für sich, schliefen, nahmen ihre Mahlzeiten ein und durchliefen verschiedene geistliche Übungen.

Ein alter erfahrener Mönch, „der Seelen gewinnen kann“, sollte sie begleiten. Für die geistliche Begleitung werden drei Kriterien genannt: prüfen, ob der Kandidat tatsächlich Gott sucht, ob er Ausdauer im Chorgebet zeigt und ob er gehorsam ist und Prüfungen aushält, an denen es nie mangelt.

Aus diesen Vorgaben lässt sich ersehen, dass die Jungen zur Zeit Benedikts keine verzogenen Königskinder sind, aber auch ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Daher werden sie auch an einem gesonderten Ort unter Anleitung eines erfahrenen Mönches ausgebildet. Die Integration in die Gemeinschaft geht stufenweise vor sich, wobei dem geistlichen Weg der Vorrang eingeräumt wird. Auch hierin lässt sich eine Anfrage hinsichtlich unserer heutigen Tendenz herauslesen, Neuankömmlinge möglichst schnell und umfassend zu integrieren und zugleich ihre besonderen Anlagen wahrzunehmen und zu fördern. Zwischen solchen verschiedenen Wegen sollte man ein gesundes Gleichgewicht finden. Denn immerhin geht es dabei um die Zukunft des Klosterlebens selbst. Man unterschätzt nämlich oft zu sehr, wie unterschiedlich die Generationen geprägt sind. Die Generationsunterschiede beschleunigen sich noch in der modernen Welt und verlangen nach einer stufenweisen Annäherung, damit ein gesunder Dialog zwischen Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Mentalitäten stattfinden kann, selbst wenn die gemeinsame Regel eine vermittelnde Rolle spielt.

Die schrittweise Integration ist auch deswegen besonders bedeutsam, weil dem Lebensengagement heute nur noch eingeschränkt ein besonderer Wert beigemessen wird. Man erlebt immer wieder Mönche und Nonnen, die auch nach den ewigen Gelübden ohne größere Skrupel ihr Versprechen zurücknehmen. Man erlebt sogar, dass sie ohne jede Vorwarnung das Kloster einfach verlassen, was beispielsweise im Berufsleben ganz untragbar wäre. Doch wird das Klosterleben eben mehr dem Bereich der Familie zugeordnet, wo gleichfalls Bindung und Lösung mit immer weniger Hemmschwellen verbunden sind.

Benedikt unterstreicht die Rangordnung innerhalb der Gemeinschaft (RB 63). Er legt fest, dass sich diese nach dem Eintrittszeitpunkt in die Gemeinschaft richten soll und nicht nach Alter oder sozialem Status. „Wer zum Beispiel zur zweiten Stunde des Tages ins Kloster kam, muss wissen, dass er jünger ist als jener, der zur ersten Stunde des Tages gekommen ist“ (RB 63,8). In gleicher Weise bestimmt Benedikt, dass „nirgendwo das Lebensalter für die Rangordnung den Ausschlag geben oder sie bestimmen darf, haben doch Samuel und Daniel, obgleich noch jung, Gericht über die Ältesten gehalten“ (RB 63,5-6). In diesem Kapitel wiederholt auch Benedikt nochmals, dass die Jüngeren die Älteren ehren und die Älteren die Jüngeren lieben sollen. Dafür führt er einige Regeln des mitbrüderlichen Umgangs an, welche auch für das Alltagsleben Konsequenzen haben: Die Jüngeren sollen „Bruder“ oder „Schwester“ genannt werden und die Älteren „nonnus“ oder „nonna“, was übrigens der Ursprung des Wortes „Nonne“ ist. Im Italienischen benützt man diese Worte heute noch für den Großvater und die Großmutter. Der Ausdruck „Bruder“ und „Schwester“ drückt seitens der Älteren die Anerkennung christlicher Geschwisterliebe aus und will keine Bevormundung vermitteln. Der Ausdruck „nonnus“ und „nonna“ für die Älteren will dagegen Respekt, aber auch eine gewisse Vertraulichkeit andeuten. Man kann diese Wörter mit „Väterchen“ oder „Mütterchen“ übersetzen. So würde man heute zwar niemand mehr nennen, aber vielleicht sollte man sich vergleichbare Ersatzwörter überlegen.

Benedikt prägt auch einige elementare Höflichkeitsformen ein, beispielsweise, dass man sich bei einer Begegnung grüßt und dabei der Jüngere die Initiative ergreift. In der Regel wird das so begründet, dass man dabei um den Segen Gottes bittet, der vom Älteren vermittelt wird. Benedikt erinnert auch daran, dass sich Jüngere erheben sollen, wenn ein Alter kommt und ihm einen Platz anbieten. Es sind kleine Gesten, die aber einen grundlegenden Respekt und gegenseitige Wertschätzung ausdrücken.

Gerade in der westlichen Gesellschaft, in welcher ältere Menschen in Sondereinrichtungen abgeschoben werden, kann das Beispiel der Klöster mit dem friedlichen Zusammenleben verschiedener Generationen Zeugnischarakter annehmen. Das verlangt freilich auch von den Älteren, die ja in vielen Gemeinschaften die Mehrheit bilden, eine gewisse Selbstdisziplin. Die Versuchung liegt nämlich nahe, dass sie die wenigen Jüngeren für sich in den Dienst nehmen. Eine solche Situation spitzt sich noch zu, wenn man dafür Mönche und Schwestern aus dem Ausland kommen lässt.

Ein weiteres Thema besteht für Benedikt darin, dass sich Mitglieder derselben Familie nicht gegenseitig in Schutz nehmen. Daraus könnten nämlich Unruhen und Spaltungen entstehen. Er unterstreicht auch, dass die Jüngeren und Älteren aufgrund ihrer Schwäche geschont werden sollen und man sich auf keinen Fall an ihnen abreagieren darf.

Ganz am Schluss der Regel heißt es, dass sie für Anfänger geschrieben ist. Daher dürfen auch die Mitglieder einer Klostergemeinschaft sich ein kindliches Herz bewahren, das danach strebt, auf dem gebotenen Weg in Liebe voranzuschreiten. So sollen sich die Herzen weiten und alle gemeinsam in Freude zum Ziel eilen, das in der Vereinigung mit Gott besteht. Dieses Endziel erzeugt auch die dynamische Spannung, welche in einer Klostergemeinschaft für fortlaufende Kreativität und Erneuerung sorgt. Das Alter spielt dabei keine Rolle!