Thekla Gong CND
Kongregation Unserer Lieben Frau

Der Schatten

 

SThecleUnter den Strahlen der Sonne haben wir alle einen Schatten, der uns das ganze Leben hindurch folgt und begleitet. Wir nehmen diesen Schatten nur wahr, wenn Licht vorhanden ist, und auch das Licht ist nur möglich aufgrund des Schattens. Schatten und Licht bedingen sich gegenseitig. Ähnliches gilt unser menschliches Sein: Der Schatten- und der Lichtteil sind lebenslang miteinander verbunden und der Mensch muss diesen Schatten berücksichtigen, um sich harmonisch entwicklen zu können.

In der Tat gehören Selbstentdeckung und Wahrnehmung des Schattens eng zusammen. Wie ist dieser Schatten beschaffen? Wir wollen ihn besser kennenlernen, um ihn in angemessener und wirksamer Weise „zähmen“ zu können. Wenn der Mensch einen Teil des Schattens in sich selbst erkennt, so verhilft ihm das zu einer besseren Selbstwahrnehmung, einem verbesserten inneren Gleichgewicht und einer gelungeneren menschlichen, psychologischen und spirituellen Entfaltung.

Erkennen heißt Bewusstwerdung. Solche Bewusstwerdung ist also der Ausgangspunkt für Veränderung. „Der schlimmste Schmerz ist der, den Grund nicht zu wissen... Mein Herz kennt viele Schmerzen“ (Paul Verlaine). Wenn man nicht weiß, warum man Schmerz empfindet, wie soll man sich davon befreien können?

Das Leben ist üblicherweise ziemlich komplex, wovon sich der Gegensatz „Licht und Schatten“ klar abhebt. Nach C.G. Jung ist der Schatten ein fester Bestandteil unseres Lebens, ob wir es wollen oder nicht. Vielen Menschen ist das nicht bewusst oder sie wollen es gar nicht wissen oder zugeben. Gerade diese Leugnung seiner Existenz und die Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen, sind der Ursprung für zahlreiche Gleichgewichtsstörungen und von Verdrängung.

 

Was ist der „Schatten“?

Der Schatten ist die dunkle und negative Seite der Person, die man sich nicht eingestehen will, die man dem Vergessen anheimgibt und verdrängt, weil sie mit dem Bild, das man von sich hat und das von anderen so angenommen wird, nicht vereinbar ist. Man erschafft sich nicht selten eine Maske oder ein schönes Bild von sich selbst, um damit Eindruck zu machen und zugleich seinen Schatten zu verstecken oder ihn ins Unterbewusstsein zurückzudrängen.

In Wirklichkeit ist der Schatten von seinem Wesen her nicht einfach etwas Schlechtes oder Zweifelhaftes, sondern einfach die Rückseite der positiven Seite eines Menschen. Sich von ihr abzuwenden oder sie auszuschließen hieße, dass man einen Teil der eigenen Persönlichkeit verleugnet. Das Anliegen sollte jedoch vielmehr sein, die Vielgestaltigkeit dieses Schattens genauer zu entdecken, um ihn schließlich in unseren Lebensalltag zu „integrieren“.

Ein Teil des Ordenslebens besteht in Veränderung, innerer Weitung und der Suche nach Vollkommenheit. Daher verlangt sie auch eine gewisse Bewusstwerdung oder die Entdeckung meiner mir selbst unbekannten Seiten. Bewusstwerdung kommt von Bildung. Bildungslücken führen zu einer fehlerhaften Bewusstseinsbildung und zu Irrtümern: diese entstehen aus Handlungen des Unterbewusstseins und bekunden einen Mangel an Ausbildung, was heute auch nicht mehr dem Standard der Gesellschaft entspricht (man sollte in diesem Zusammenhang das Unbewusste vom Unterbewusstsein unterscheiden). So ist die Bereitschaft zur inneren Bildung vorrangig im gesamten Ausbildungsprozess. Die Ausbilder müssen ihre Schützlinge daran gewöhnen, dass sie sich ständig weiterbilden. Das verlangt eine lebenslange Übung.

 

Der Umgang mit dem Schatten im Ordensleben

SThecleOmbreIn der Gesellschaft, in jeder großen oder kleinen Organisation gibt es geschriebene und ungeschriebene Regeln, welche reibungslose Abläufe und die Erreichung von Zielen ermöglichen sollen. Solche Regeln sind eine Art Kompass, der uns die Richtung weist und uns hilft, ein Ziel zu erreichen. Dieses Vorgehen findet sich ebenso in Ordensgemeinschaften.

Sehen wir uns etwas genauer das Leben eines Konvents an. Wer Schatten sucht, muss einen großen Baum suchen: diese Alltagsweisheit formuliert recht gut das Konzept des Schattens, wie es C.G. Jung entwickelt hat. Wenn der Baum bei Ordensgemeinschaften aus dem Kirchenrecht, den Konstitutionen und Hausregeln, den Traditionen und der Spiritualität des Ordens besteht, dann handelt es sich um ein enormes Gewächs, das einen riesigen Schatten wirft. Dieser riesige Schatten steht für alles, was ein Ordensmitglied in sich selbst unterdrücken muss, soweit er Regeln und Konstitutionen nicht verinnerlichen konnte.

Wenn ein Kandidat sich für das Ordensleben entscheidet, dann tritt er in eine ganz unbekannte Welt ein, in der er sich nach Regel und Weisungen entwickeln soll, die seinem jeweiligen Ordensstand entsprechen. Dabei orientiert sich der Neuankömmling zunächst einmal am Leben und Verhalten der vorhandenen Ordensmitglieder. Er folgt ihrem Beispiel mit mehr oder weniger Begeisterung, auch wenn er sich vielleicht erst einmal schwer tut oder den Sinn nicht recht versteht. Mit viel gutem Willen versucht er, die Regeln einzuhalten. Aber Herz und Kopf sind nicht immer im Einklang. Das verursacht eine gewisse Unruhe: „Ich tue nicht das, was ich will, sondern tue das Böse, das ich nicht will“ (Römer 7,19). Er kann daher nicht vermeiden, dass es in ihm zu Verdrängungen kommt. Der Schatten folgt und bedrängt ihn, bis es ihm möglich wird, diese bedrängenden Regeln durch eine innere Befreiung zu überwinden.

Die Beschäftigung mit dem Schatten im Ordensleben ist unvermeidlich: Der Körper wirft nun einmal einen Schatten, der damit mit zur Realität gehört. Der Schatten wird jedoch nur dann zu einer negativen Wirklichkeit und zu einem Hindernis im Ordensleben, wenn er nicht akzeptiert und verdrängt wird, weil man sich mit ihm im Ordensalltag nicht versöhnen kann. Wenn das Ordensmitglied dagegen sich dieses Problems bewusst ist und aufgrund eigener Initiative damit auseinandersetzt, dann gelangt es zu einer echten Selbsterkenntnis und kann mit dieser Wirklichkeit heiter und gelassen umgehen. Man kennt sich selbst und weiß, was man tun muss. Wir überwinden den Schatten in uns selbst leichter, wenn wir ihn bewusster wahrnehmen.

 

Wie kann man den Schatten erkennen

In der Psychologie gibt es verschiedene Verfahren, um den Schatten wahrzunehmen und in guter Weise damit umzugehen. Im Folgenden seien einige gängige Verfahrensweisen im Rahmen des Ordenslebens aufgeführt.

 

Projektionen

Es ist sehr verbreitet, dass man andere mit der eigenen Elle misst, was auch für den psychischen Vorgang der Projektion gilt. Projektion bedeutet, dass man andere nach seinem eigenen Maßstab beurteilt und anderen negative Handlungen oder Worte unterstellt, die lediglich in uns selbst vorhanden sind. Beispielsweise unterstellt man jemand anderem Eifersucht oder Angeberei, weil man selbst unter diesen Neigungen leidet. In ähnlicher Weise verkennt man die Qualitäten oder Talente eines anderen Menschen, weil man mit dem eigenen Schatten kämpfen muss, der deraus entsteht, dass man ähnliches nicht vollbringen kann.

Aus einer Mücke einen Elefanten machen, ist eine andere Form, wie der Mechanismus der Projektion beschrieben werden kann. Man kann sich dies wie einen Projektor vorstellen, der Fortografien vergrößert auf eine Fläche wirft. Damit lässt sich die emotionale Intensität vergleichen, die durch ein Ereignis ausgelöst wird, dessen Bedeutung grenzenlos übersteigert wird im Vergleich zur gegebenen konkreten Situation. Die Reaktion ist also unverhältnismäßig in Bezug auf den Anlass. Woher kommen solche überzogenen Reaktionen? Daraus, dass der eigene Schatten verdrängt wird. Wenn man meint, einen eigenen Charakterzug beim anderen wahrnehmen zu können, dann wird die Kritik und die Verurteilung um so schlimmer. Denn zur Selbstkritik kommt nun die Verurteilung eines anderen hinzu. Man projiziert das, was man bei sich selbst ablehnt, auf einen anderen und wirft ihm ungerechtfertigterweise die eigenen Probleme vor.

Wenig wahrgenommen wird oft der Schatten des Minderwertigkeitskomplexes, aus dem gleichfalls Projektionen entstehen. Man projiziert dabei seine positive Seite auf die anderen, woraus dann die Neigung entsteht, die anderen ständig zu loben, zu bewundern und sie nachahmen zu wollen. Bei solchen Tendenzen verliert man zunehmend sein persönliches Profil innerhalb der Gemeinschaft. Man sagt sich ständig, dass man nichts wert ist und man nicht die Eignung hat, um der Gemeinschaft zu nützen. Damit unterdrückt man die eigenen Fähigkeiten, die sich nun nicht mehr in ihrer kreativen Kraft entfalten können. Wenn der Schatten sich in dieser Weise bemerkbar macht, verpasst man jede Chance auf Selbstbestätigung, auf Entwicklung und auf eine Form des Dienens an der Gemeinschaft, bei der ich mein ganz persönliches Talent einbringen kann, das mir vom Herrn anvertraut wurde.

Um es nochmals zusammenzufassen: Projektionen verkörpern die negative und ungesunde Seite einer Person. Man kann davon sagen, dass, sie vielfach von Ordensfrauen und -männern eingesetzt werden, um sich in ihren Beziehungen zu Mitbrüdern oder -schwestern zu rechtfertigen. Der eigene Schatten, den sie anderen unterstellen, führt dann dazu, dass sie das Vertrauen in andere verlieren und zur Selbstöffnung in echten Beziehungen unfähig werden.

 

Der Traum

Träume eröffnen uns die ganze Welt des Unterbewusstseins. Sie enthalten eine Vielzahl verborgener Botschaften. Üblicherweise ist ein Drittel unseres Tages dem Schlaf vorbehalten. Der sich dabei abspielende Traum stellt die Zeit dar, in welcher das Unterbewusstsein aktiv ist. Die anderen zwei Drittel unserer Zeit sind dagegen mit bewussten Handlungen gefüllt. Daher betrachten auch viele Psychoanalytiker den Traum als eine Art verborgener Mitteilung, als ein Ventil, durch das unsere eigentlichen Bedürfnisse austreten. Man kann also durch die Traumanalyse einen verborgenen Teil des Schattens an den Tag treten lassen.

 

Der Humor

Für das Lachen gibt es immer einen Grund, ja sogar mehrere Gründe. Hier wollen wir uns auf den Zusammenhang mit dem Schatten beschränken, der sich bei manchem Lachen als Humor äußert. Warum lachen in bestimmten Situationen einige Menschen und andere nicht? Die Antwort besteht darin, dass das persönliche Interesse und die innere Situation bei jedem Menschen anders aussieht. Hinter Humor kann sich Ironie, Spott, Anspielungen, Mangel an Rücksichtnahme oder Lebensfreude verbergen.

Humor kann auf eine Abreaktion oder eine Projektion hinweisen. Die Themen des Humors sind unterschiedlich: das Leben selbst, Sexualität, Kompensationen für verborgene Bedürfnisse wie Zuneigung, Eifersucht, Hass, Verachtung usw., also Teile des Schattens, die wir zurückgewiesen oder verdrängt haben und nun auf andere projizieren. Diese Art von Humor ist ein Ventil für Unzufriedenheit, Neid oder Wut in unserem Inneren. So oft das Lachen von Priestern und Ordensleuten über ihre Vorgesetzten.

 

Fragen stellen

In seinem Werk „Seinen Schatten zähmen“ (Edition Novalis, Kanada 2010) stellt Jean Monbourquette neun Fragen. Wir wollen uns unter diesen Fragen auf diejenigen beschränken, die einen Zusammenhang mit dem Ordensleben haben.

 

Direkte Fragen:

1. Welche Themen vermeidest du in Gesprächen?

2. In welchen Situationen fühlst du dich unwohl, zeigst du die gereizt oder versuchst dich zu rechtfertigen?

3. Was für Äußerungen provozieren dich und lassen dich leicht die Selbstkontrolle verlieren?

Im Werk von Monbourquette folgen noch weitere ähnliche Fragen. Ehrliche Antworten auf solche Fragen werden uns selbst überraschen oder sogar beschämen. Doch wenn wir tatsächlich ernsthaft und mutig unseren Schatten konfrontieren, wird eine Sache offensichtlich: Wir leben in einer unvollkommenen Welt und haben unsere Grenzen. Wir müssen uns auch die Frage stellen, warum wir beispielsweise beim Thema Sexualität so nervös reagieren, während andere damit ganz entspannt umgehen. Vielleicht bin ich vor meinem Eintritt in das Ordensleben sexuell missbraucht worden und will diesen Teil meines Schattens nun vor anderen verbergen.

 

Indirekte Fragen:

1. Was sind deine positivsten Eigenschaften, die du gerne von anderen anerkannt sehen würdest?

2. Einen weisen Menschen erkannt man daran, dass er seine schmutzige Wäsche nur im eigenen Haus wäscht. Gibt es hierbei vielleicht einen Zusammenhang mit dem Schatten? Gibt es auch einen Zusammenhang mit der Neigung, seine Vorzüge vor anderen auszubreiten?

Natürlich spricht nichts dagegen, seine Talente und Leidenschaften öffentlich mitzuteilen, um so ein gewisses Wohlbefinden zu erzielen. Aber ein solches Handeln kann auch schnell zu Selbsttäuschungen und übertriebenen Einschätzungen der eigenen Person führen. Dann lauert irgendwo im Hintergrund der Schatten.

Wer sich Illusionen über die eigene Person macht, sucht mit allen Mitteln, andere zu täuschen und sich in lächerlicher Weise zu überheben. Unbewusst verleugnet man seine negativen Weisen und seine Grenzen, um sich vor sich selbst zu beschönigen oder andere zu beeindrucken. Die Wahrheit kommt aber schnell ans Licht, wenn man nicht ein Meister der Verstellung ist, denn alles Gekünstelte ist instabil.

Ehrliche Antworten auf die oben gestellten Fragen erlauben uns, unseren Schatten leichter wahrzunehmen.

 

Sich mit seinem Schatten versöhnen

In seinem Werk „Reise in die Freiheit“ (englischer Titel: Journey to Freedom. The Path to Self-Esteem for the Priesthood and Religious Life) zählt der Autor James E. Sullivan eine Reihe von Bestrafungen auf, die man sich selbst zufügen kann. Dabei fällt es uns leichter, uns mit uns selbst zu verzeihen, als uns mit anderen zu versöhnen. Ein solches Verhalten zeigt allerdings auch, dass wir unseren eigenen Schatten nur mit großer Mühe wahrnehmen und uns mit ihm nur schwerlich versöhnen. Damit dies gelingt, sollten wir mit viel Mut und Geduld drei Etappen durchschreiten.

 

Den Schatten zugeben

Üblicherweise trägt jeder von uns eine Maske für seine Darbietungen auf der Bühne des Lebens. Daraus wird bereits klar ersichtlich, inwieweit unser Schatten abgelehnt oder akzeptiert wird: Im Leben einer Ordensgemeinschaft richtet sich alles nach heiligen und bewährten Traditionen. Doch jeder Mensch leidet auch unter der Erbsünde und der alte Mensch kommt immer wieder zum Vorschein. Auch ein Ordensmitglied wird sich inneren Konflikten nicht gänzlich entziehen können oder solchen Doppelrollen wie „Erwachsener-Kind, Heiliger-Biest, gute Seite-schlechte Seite“ entziehen können, von denen Papst Franziskus in seinen „Fünfzehn Krankheiten der römischen Kurie“ spricht. Wer über eine sehr raffinierte Maske verfügt, kann seinen Schatten besser verbergen. Aber dann besteht die Gefahr, dass man sich so an das Versteckspiel gewöhnt, dass man an die eigene Täuschung glaubt und seinen Schatten vergisst. Um mich mit meinem Schatten zu versöhnen, muss ich zunächst einmal seine Existenz als fester Bestandteil meines Lebens zugeben. Das verlangt von jedem eine Art innerer Bekehrung, die durchaus auch mit der übernatürlichen Seite unseres Lebens in Zusammenhang steht. Wenn uns die Gnade Gottes beisteht, entdecken wir auch die Hindernisse auf unserem geistlichen Weg. Dabei ist der Schatten unser Haupthindernis, das in negativer Weise unser Ideal der Vervollkommnung beeinflusst.

 

Identifizieren und Benennen

Mit den genannten Empfehlungen sollte es nicht schwer fallen, den Gegner zu identifizieren und zu benennen (ihn an den Pranger zu stellen), vor allem wenn wir den Schatten als festen Bestandteil unseres Lebens zugegeben haben. Dies schon ist ein enormer Schritt voran. Wenn wir den Schatten im Zusammenhang unserer Maske aufarbeiten, reicht es bereits, wenn wir die Illusionen unseres Lebens in den Blick nehmen und die Bereiche, wo wir übertreiben. Beispielsweise äußert sich der Schatten der Faulheit und des Egoismus im Rahmen einer Gemeinschaft nicht selten in Form eines besonders großherzigen und engagierten Mitglieds, das gerne in den unterschiedlichsten Herausforderungen seinen Dienst verrichtet. Tatsächlich kann sich der Schatten in unterschiedlichsten Formen verbergen. Wenn wir den Schatten im Bereich der Projektionen nachspüren, können wir ihn dort greifen, wo wir andere beschuldigen. Besonders leicht wird die Identifizierung fallen, wenn die Vorwürfe gegenüber anderen besonders massiv und heftig ausfallen.

 

Sich versöhnen

Versöhnung ist der letzte Schritt, um sich wieder gänzlich mit dem Leben vereinen zu können, bei dem der Körper und sein Schatten, Licht und Dunkel, die Vorzüge und Fehler eines Ordensmitglieds zusammengehen. Um dorthin zu gelangen, hilft es, wenn man auf einem Papier seine Stärken und Schwächen gegenüberstellt, die dabei jeweils aus der Perspektive des Schattens betrachtet werden. Dabei spielt beispielsweise eine Rolle, welche Vor- und Nachteile für mich selbst und für die Gemeinschaft haben die verschiedenen Maskeraden, mit denen ich meine egoistischen Tendenzen bemäntele? Meine Einsichten sollte ich dann mit den praktischen Erfordernissen der Gemeinschaft konfrontieren.

Dazu ein Hinweis: Jeder geistliche Weg entwickelt sich langsam und in Stufen. Damit wird eine nur oberflächliche Aneignung vermieden, die auf einer mangelnden Überzeugung beruht und dem Praxistest nicht standhält. Außerdem sollte jedes Ordensmitglied für jede seiner Lebensetappen die jeweiligen Ideale genauer unter die Lupe nehmen, sie sich aneignen und in sein Leben integrieren, wobei ihm die Weisheit und Gnade Gottes helfen werden. Damit können wir vielleicht auch die Zahl unserer Masken reduzieren, die Schatten im Ordensleben etwas aufhellen und ein gewisses Gleichgewicht im körperlichen, psychologischen und spirituellen Bereich erlangen (vgl. dazu Jung, Collected Works, Bd. 17).

 

Die „Nächte“ des Ordenslebens

„Jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen“ (Mt 19,29).

„Hundertfach“ schon, aber nicht ohne viele „Prüfungen“ durchlaufen zu haben (Apg 14,22). Das Ordensmitglied, das sich für den engen Weg entschieden hat, um die Fülle des Lebens zu erreichen und dabei ein Ordensleben zu führen, das diesen Namen verdient, muss auf vielen Ebenen sich anstrengen und dabei durch Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz und viele Leiden gehen. An manchen Tagen wird man meinen, dass das die Hölle auf Erden sein muss. Warum? Weil man noch genauso menschlich wie eh und je ist trotz Gelübde und eventueller Priesterweihe.

Das Ordensleben kennt also „dunkle Nächte“ und nicht selten sogar mehrere davon. Worin bestehen sie? Die „längste Nacht“ des Ordenslebens sind zweifellos die Leidenschaften, die das Ordensmitglied weiterhin heimsuchen. Wie jeder andere Mensch kann auch ein Ordensangehöriger nicht den Versuchungen und Neigungen entkommen, die manchmal mit ungeahnter Intensität aufbrechen können, da er ja in vieler Hinsicht sich selbst entsagen soll. Man kann diese Situation mit Fastentagen vergleichen, an denen auf einmal der Hunger noch drängender und das Verlangen zu essen noch stärker als sonst ist.

Die vielfältigen Gesichter der Versuchung kann man in fünf Begriffen zusammenfassen: Liebe, Monotonie, Autorität, Geld und Freiheit.

Als menschliches Wesen gehört auch der Ordenschrist weiterhin zur Menschenfamilie und unterscheidet sich in nichts von dem allergewöhnlichsten Sterblichen. Er muss sich freilich bei vielen Bedürfnissen und Ansprüchen eines normalen Menschen zurücknehmen: er ist in der Welt, aber nicht von der Welt. Er muss oft gegen den Strom schwimmen. Die „lange Nacht“, die für die Leidenschaften steht, lauert immer im Hintergrund, um den Ordenschristen zu überschatten. Man kann ganz offen eingestehen, dass viele Ordensleute diese „lange Nacht“ durchschritten haben und nicht alle sie unbeschadet überstanden haben.

In vielen Gemeinschaften und bei vielen Ordensleuten nimmt dabei diese „Nacht des Ordenslebens“ eine äußerst täuschende Gestalt an: „Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts“ (Lk 16,8).

Liebe

Leben ohne Liebe ist kein Leben. Man muss offen zugeben, dass es im Ordensleben bestürzende Säkularisierungstendenzen gibt. Ein Ordensangehöriger entscheidet sich für die evangelische Keuschheit, also einen ungewöhnlichen Lebensstand, der weithin als unnatürlich empfunden wird. Andererseits lebt er in einer Zeit hochentwickelter Informationstechniken, welche unsere ganze Art des Lebens und Denkens umgestellt haben. Zudem genießt er verbesserte Lebensbedingungen und individuelle Freiheiten, die im Vergleich zu früheren Generationen weit zugenommen haben. Aus Mangel an Wachsamkeit geraten so Ordensleute nicht selten auf eine Bahn, auf die sie durch Mangel an Widerstand, natürliche Neigung und Leidenschaften hingezogen werden und die nach und nach sich zu einem Teufelskreis entwickelt, aus dem man kaum mehr einen Ausweg findet. Dabei teilt das Ordensmitglied seine Situation niemandem mit und verschleiert sie, so gut es geht. Denn er empfindet Scham, seine persönlichen Probleme anderen mitzuteilen. So tritt er auf der Stelle und findet keinen Ausweg mehr.

Monotonie

Monotonie führt leicht zu Routine und Depression. Sie stellt gleichfalls eine Form der „Nacht des Ordenslebens“ dar. Man kann durchaus sagen, dass das Ordensleben einem „Theaterstück gleicht, das sich täglich wiederholt.“ Die Verpflichtungen des Ordenslebens sind Tag für Tag die gleichen, ohne jede Abweichung, zur gleichen Zeit und am selben Ort mit morgendlichem Gewecktwerden, Eucharistie, Stundengebet, Mahlzeiten, Arbeit, Studien usw. Dieses Bild bleibt immer dasselbe während der ganzen Zeit unseres Ordenslebens. Solche Monotonieerfahrung führt bei manchen Ordensangehörigen zu einer Suche nach Abwechslung oder nach Fantasiewelten. Gelegentlich überfällt den Ordensangehörigen eine gewisse Müdigkeit hinsichtlich der Arbeit, des Gemeinschaftslebens, des Stundengebets usw. Die Erfahrung zeigt, dass eine Reihe heutiger Jugendlicher einen solchen Zustand nicht ertragen kann, nachdem sie sich für das Ordensleben entschieden haben. Wenn ihre Berufung nicht sehr stark ist und ihre Gottessuche nicht sehr ausgeprägt ist, werden sie leicht von den Wogen der Welt wieder weggespült.

Autorität

Eine andere „Nacht“ des Ordenslebens äußert sich im Machtmissbrauch seitens mancher Priester und Ordensleute. Ihr Leben nach der Priesterweihe oder den ewigen Gelübden befindet sich in einem völligen Widerspruch zu dem, was sie gelernt haben und wie sie ausgebildet wurden, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, also Priesterweihe oder Gelübde. Aus psychologischer Sicht handelt es sich hierbei um besonders gefährliche Fälle, vor allem bei Personnen, die unter starken Verdrängungen leiden und die bei ihrer Ausbildung alle Herausforderungen widerspruchslos angenommen haben, ohne irgendwie ihre inneren Widerstände und das Gefühl von Unterdrückung aufzuarbeiten. Sie alle leiden in ihrem Unterbewusstsein unter Verdrängungen, ohne dass sie das Bedürfnis hätten, sich damit angemessen auseinanderzusetzen. Sobald sie nun ihr Ziel erreicht haben, also die Zuweisung irgendeines Amtes und ein Posten, der mit Autorität verbunden ist, auch wenn diese noch so gering sein sollte, übernimmt ihr Unterbewusstsein die Leitung und sie treten autoritär auf. Glücklicherweise gibt es immer noch genug Personen, die sich ausreichend zu beherrschen wissen, um solchen schlechten Neigungen des Unterbewusstseins entgegenzutreten. Sie erreichen dadurch wahre menschliche Reife und eine tiefe Festigung ihrer Berufung. „Wer unter euch der erste sein will, soll der Diener aller sein“ (Mk 10,43). Es fehlt nicht an Ausbildern, die sich ausgesprochen streng gegenüber ihren Mitbrüdern oder Mitschwestern zeigen und bei ihrem Herumreiten auf Kleinigkeiten von ihrem Unterbewusstsein gesteuert werden.

Geld

Gier stellt gleichfalls eine gar nicht so seltene „Nacht“ des Ordenslebens dar, das sich immer wieder mit Säkularisierungserscheinungen herumschlagen muss. „Die Gier des Menschen ist wie ein Brunnen ohne Grund“, lautet eine ganz praktische Erfahrung der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch ist nie mit dem zufrieden, was er besitzt, 39 sondern verlangt ständig nach mehr. Das findet sich auch im Ordensleben. Eine gewisse Anzahl von Ordensmännern und Ordensfrauen verraten ihre Gelübde für Geld, verleugnen die Mitbrüder und -schwestern und verlieren ihre Berufung. Sie nehmen nur, geben aber nichts. Im praktischen Leben zeigt sich nicht selten, dass Personen aus armen Familien anspruchsvoll sind und gerne ansammeln. Darin kann eine Art von Kompensation liegen. Geld hat allerdings kein Herz. Darum ist es besser, wenn man ein Ordensmitglied nicht zu lange mit Geldgeschäften betraut oder weitreichende Autorität ausüben lässt.

Freiheit

Heute berufen sich viele jüngere Ordensleute auf die Menschenwürde und die individuelle Freiheit, um entsprechend ihren eigenen Vorstellungen leben zu können. Wir alle sind dabei in Gefahr, eine negative Richtung einzuschlagen. Vergessen wir nicht, dass in dieser Welt die Freiheit nicht in vollständigem Fehlen jeder Form eines Zwangs bestehen kann. Regeln sind Zügel, keine Ketten. Der Unterschied besteht eben darin, dass Zügel leiten sollen, während Ketten uns einkerkern. Freiheit ist wie ein Messer mit zwei Schneiden. Sein Nutzen und seine Gefahr hängen von der Art der Benutzung ab. Selbsterkenntnis hilft uns dabei, ein vernünftiges, angemessenes und richtiges Leben zu führen.