Mauro-Giuseppe Lepori OCist

Generalabt der Zisterzienser

Das monastische Charisma im 21. Jahrhundert

Vortrag beim Generalkapitel der Trappisten 2017

 

MGLeporiIch bin froh und dankbar, dass wir uns ein drittes Mal beim Generalkapitel treffen können. Für mich ist es ein Höhepunkt innerhalb vieler anderer Begegnungen zwischen den Mitgliedern und Gemeinschaften unserer Orden und innerhalb der Zisterzienserfamilie, die auch immer eine Erinnerung an die Gemeinsamkeit unserer Berufung ist. Diese Berufung zeigt sich sicher nicht immer im Leben selbst, denn im Vergleich zu dem, wozu Christus uns beruft, sind wir immer im Rückstand, aber in der Berufung, zu der uns Christus hinführt und der Heilige Geist antreibt. Wenn jemand oder eine Gemeinschaft ingesamt äußert: „Ich habe meine Berufung erfüllt“, dann ist das ein sicheres Zeichen, dass die Berufung gerade nicht gelebt wird. Denn Berufung ist niemals ein abgeschlossener Vorgang für jemanden, der aufrichtig Christus folgen will, der uns vorangeht, uns aber nicht hinter sich herschleppen will wie die Soldaten, die den Herrn gebunden zu Kaiphas oder Pilatus brachten. Jesus geht uns aus freiem Entschluss voran und ähnliches gilt für das monastische Leben, auch wenn man dort leicht auf den Gedanken verfällt, dass der Weg von jeher und für immer genau vorgeschrieben ist.

Ich denke, wir sollten in der Haltung, in der Paulus seine persönliche Treue zum Ruf in die Nachfolge des Herrn erlebte, über unsere Berufung und unsere Art und Weise, sie umzusetzen, nachdenken:

„Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder, ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt. Das wollen wir bedenken, wir Vollkommenen. Und wenn ihr anders über etwas denkt, wird Gott euch auch das offenbaren. Nur müssen wir festhalten, was wir erreicht haben“ (Phil 3,12-16).

Der hier geäußerte Gedanke beruhigt mich. Denn was uns oft aus der Fassung bringt, ist der Blick zurück in die Vergangenheit, worauf wir unsere Zukunftsperspektive gründen möchten. In diesem Sinne lädt uns vielleicht auch Jesus dazu ein, ihm nachzufolgen, ohne zurückzublicken (vgl. Lk 9,62). Denn solche Blicke zurück hindern uns daran voranzuschreiten. Der Grund mag darin liegen, dass die Vergangenheit derart unschön war, voller Ruinen, oder noch schlimmer, weil die Vergangenheit so ehrenvoll war, denn von einer ehrenvollen Vergangenheit, die uns schmeichelt, trennen wir uns noch weniger gern. Auf jeden Fall kann man nicht voranschreiten, wenn man gleichzeitig zurückblickt.

Zu diesem Anlass gab mir die Vorbereitungskommission im Auftrag Ihres Generalabtes folgendes Thema zur Vertiefung vor: „Das monastische Charisma im 21. Jahrhundert“. Damit legen auch Sie mir mit diesem Thema nahe, mehr nach vorne als zurück zu schauen. Allerdings ist die Vergangenheit nicht belanglos für unseren Weg. Sie trägt uns, so wie die Wurzeln einen Baum, der in die Höhe und Breite wächst, um Räume und Zeiten in seiner Richtung nach oben, zum Himmel, zu umspannen. Wir sollten zwar nicht zurückblicken, müssen aber die Erinnerung pflegen. Das bedeutet, dass die Vergangenheit für uns nicht einfach zurückgelassen wird, sondern mit uns weitergeht, in uns bleibt und in uns lebendig bleiben muss. Auf diese Weise wird die Vergangenheit zur Tradition, zum Auftrag und Erbe. Durch uns kann die Vergangenheit dann auch weitergehen, uns überleben, unser Leben übersteigen, sogar zur eigentlichen Botschaft unseres Lebens werden, so dass es Frucht bringt.

Die Kernfrage für uns heute ist also, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst werden, Frucht zu bringen, dass wir eine väterliche und mütterliche Verantwortung für die folgenden Generationen tragen. Beim 21. Jahrhundert oder sogar beim dritten Jahrtausend geht es für uns weniger um einen Zeitraum als vielmehr um Nachkommenschaft. Gott hat Abraham, den Patriarchen und Königen keinen Zeitraum als Zukunft zugesagt, das wäre für die jüdische Mentalität zu abstrakt gewesen, sondern eine Zukunft für die Nachkommenschaft, also eine menschliche, lebendige, persönliche im tiefsten Sinn des Wortes kulturerfüllte Zukunft. Diese Zukunft hängt durchaus auch von diesem Bindeglied ab, das ich selbst bin in der Kette zwischen den Generationen vor und nach mir.

Mir ist nie so recht wohl, wenn ich spüre, dass die Nachwuchssorge unserer Klöster sich weniger um das Bedürfnis nach Fruchtbarkeit dreht, sondern darum, den Betrieb, die einzelnen Aufgabenbereiche, die Bauwerke, die Grundstücke am Laufen zu halten. Es kommt einem dann so vor, als ob man sich Berufungen nur zur Erhaltung von Strukturen wünscht, aber nicht, um einfach nur Leben weiterzugeben und um die Berufung als Lebenserfüllung erkennen zu lassen.

Ausdruck eines Wunsches nach echter Fruchtbarkeit ist auch in diesem Bereich das Bewusstsein, dass unsere Art von jungfräulicher Fruchtbarkeit immer ein Geheimnis umgibt. Denn sie erfüllt sich nicht durch unsere menschlichen Anstrengungen, sondern nur so, indem diese Anstrengungen in den Dienst des Gotteswerkes gestellt und von Heiligem Geist getragen werden, so wie Maria ihren Leib, ihre Seele, ihren Geist, ihr Leben, ihre Beziehungen, auch die mit Joseph, ganz und gar Gott anvertraut hat.

Die jungfräuliche Beziehung zur Realität lässt Gott so walten, wie er es will. Es handelt sich um eine Herzensöffnung hin zur Fruchtbarkeit, die nicht die unsere ist, von uns nicht recht erfasst werden kann und unsere eigene Fruchtbarkeit weit übersteigt.

„Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen: Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.“

Vergessen wir auch nicht, dass die jungfräuliche Fruchtbarkeit beständiger ist als die fleischliche und keine besonderen Einschränkungen kennt. Eltern ohne Kinder haben keine Nachkommenschaft. Unsere Nachkommenschaft kann sogar ganze Generationen überspringen, kann auch erst nach unserem Tod wirksam werden oder sogar nach dem Tod der ganzen Gemeinschaft. Wieviele Zisterzienserklöster sind nicht gestorben und wurden nach Jahrzehnte oder Jahrhunderten wieder zu neuem Leben erweckt?

Diese jungfräuliche und von der Frohen Botschaft geprägte Auffassung von der Fruchtbarkeit unseres Lebens, unserer Gemeinschaften, unserer Orden und ganz allgemein von unserer monastischen Berufung ist ein entscheidender Punkt, der nach meiner Auffassung über unser Leben in den nächsten Jahrzehnten entscheiden wird. Ich spreche von „unserem Leben“, nicht „unserem Überleben“, denn der Herr hat uns nicht ein Überleben, sondern die Auferstehung verheißen. Bloßes Überleben wäre zu wenig: „Machen es nicht auch die Zöllner und Heiden genauso?“ (vgl. Mt 5,46-47). Unser Glaube gründet nicht auf der Totenerweckung des Lazarus, der Tochter des Jairus oder des Sohnes der Witwe von Naim, sondern auf der endgültigen Aufstehung Christi, die durch die Taufe für uns zum ewigen Leben geworden ist. Leben um zu überleben ist letztlich eine todgeweihte Entscheidung, eine Entscheidung der Angst, die uns die Lebensfreude abhanden kommen lässt, die Bereitschaft, das Heute als einen Moment anzunehmen, in dem der ewige Gott uns Anteil an seinem Sein gibt, das Liebe ist. Kann es eine größere Lebenserfüllung geben als solche Momente? Und dies auch dann, wenn vielleicht der folgende Moment der Augenblick meines Todes oder des Endes meiner Gemeinschaft ist.

Könnte ohne eine solche Fruchtbarkeit aus dem Evangelium heraus unser monastisches Charisma der heutigen Welt noch etwas Neues bieten?

Der Mensch des 21. Jahrhunderts hat den Sinn für das ewige Leben verloren und lebt daher nur noch für das Überleben. Alle politischen und sozialen Agendas und auch die Religionsentwürfe, die sich dem mainstream angepasst haben, schlagen letztlich nur Überlebensstrategien vor. Wie man die ökologische Krise überlebt, Krankheiten, Depressionen, Unfälle, den Terrorismus, die Immigrationswelle usw.

Was bietet unser Charisma eigentlich der Welt, der kulturellen Gesamtwetterlage des 21. Jahrhunderts und der Globalisierung, wie wir sie überall antreffen, in Europa, den beiden Amerikas, Asien, Afrika oder Ozeanien?

Der hl. Benedikt hebt hervor, dass die Entscheidung zugunsten eines Lebens in Fülle eine wichtige Motivation unserer Berufung sein sollte. Im Prolog der Regel ist die einzige Voraussetzung für Berufung, die er uns nahelegt, die Frage, ob wir mit Gott und damit in der Tiefe unseres Herzens „das Leben lieben und gute Tage“ (RB Prol. 15) zu sehen wünschen. Im unmittelbaren Anschluss stellt er klar, dass der Wunsch nach Leben bedeutet, sich „wahres und ewiges Leben – veram et perpetuam vitam“ (Prol. 17) zu wünschen. Es geht mithin nicht um ein Traumleben oder bloßes Überleben, nicht um ein bequemes Leben an der Oberfläche, sondern um ewiges Leben hic et nunc, das bereits im gegenwärtigen Leben beginnt. Die gesamte Regel will dieses wahre und ewige Leben vermitteln und sie selbst ist der „Weg zum Leben“, den der „Herr selbst uns in seiner Güte zeigt“ (Prol. 20).

Wenn wir zu diesem Weg nicht hinführen, wenn unsere Gemeinschaften nicht mehr dafür leben, wenn sie nicht mehr Schulen des wahren und ewigen Lebens sind, dann vermitteln wir nicht mehr unser Charisma und können nicht mehr in überzeugender Weise fruchtbar sein. Den fruchtbar sein bedeutet, Leben weiterzugeben, und wir sind dazu berufen, das wahre und ewige Leben selbst zu leben und weiterzugeben, das uns der österliche Christus in der Taufe geschenkt hat.

Ich lege dies dar, weil eine solche Vision uns erlaubt, auch unsere Schwäche und unseren Tod als Zeugnis für das wahre Leben zu verstehen, der wahren Fruchtbarkeit, die Christus immer ermöglicht. So drückt sich die Fruchtbarkeit der Märtyrer eben in ihrer außergewöhnlichen Entscheidung für das Sterben aus.

Wir haben dies unmittelbar dem gekreuzigten Christus zu verdanken: „Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Was hat dieser Heide so überzeugendes im Tod Christi sehen können? Ihm wurde die Gnade geschenkt, dass er mitansehen konnte, wie Jesus mit einer Haltung und einer Liebe starb, die aus diesem Tod ein Zeugnis machte für ein Leben und einen Lebenssinn, die größer als der Tod sind. Es ist wohl kein Zufall, wenn Benedikt drei Werkzeuge des guten Lebens nacheinander aufführt, die von Tod und Leben sprechen:

„Das ewige Leben mit allem geistlichen Verlangen ersehnen.
Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben.
Das eigene Tun und Lassen jederzeit überwachen“ (RB 4,46-48)

Das 21. Jahrhundert steht für eine Kultur, in welcher der Mensch weder dem Leben noch dem Tod einen Sinn zu geben vermag, da es sich um eine rein innerweltliche Kultur handelt, welche die Ewigkeit nicht mehr wahrnehmen kann. Atmet man noch in unserer Klöstern dieses geistliche Verlangen nach dem ewigen Leben, in unserer Liturgie, in unserem mitbrüderlichen Umgang, in unserer Gastfreundschaft, unserem Schweigen, in unseren Äußerungen? Kann man in unserem Leben und Sterben noch erkennen, dass der auferstandene Christus den Tod besiegt und so dem Leben einen ewigen Sinn geschenkt hat?

Es liegt auf der Hand, dass man auf solche Fragen nicht einfach mit einer moralisierenden Antwort entgegnen kann. Es geht nicht darum, dass man etwas mehr, anders oder besser macht. Benedikt gibt uns zu verstehen, dass wir uns hier vor allem im Bereich der Sehnsucht bewegen, eines Blicks nach innen, einer Herzenshaltung, welche dem gewöhnlichen menschlichen Leben einen tieferen Sinn verleiht, indem es im Kloster und auch außerhalb von unseren Schwestern und Brüdern im Geist der Menschlichkeit gelebt wird.

Es fehlt nicht an Männern und Frauen, welche uns diese Botschaft vermitteln. Wenn wir Mönche und Nonnen von heute sind mit guten und schlechten Seiten, dann eben weil wir für diese Berufung mit guten und schlechten Seiten geboren wurden.

Ähnlich wie ich die Überzeugung habe, über eine ununterbrochene Kette vieler Generationen mit Adam und Eva verbunden zu sein, so bin ich als Zisterzienser der heutigen Zeit in meiner Berufung über eine geheimnisvolle spirituelle Kette ohne Unterbrechung mit den ersten Äbten und Mönchen von Cîteaux verbunden und durch sie hindurch – gleichfalls ohne Unterbrechung – mit dem hl. Benedikt.

Als wir im Mai in Cîteaux zusammenkamen, um zu erkunden, wie wir als Zisterzienserfamilie beim Unterhalt und der Nutzung dieses Ursprungsortes zusammenarbeiten können, vor allem beim Definitorium (ehemaliger Versammlungsraum) und der Überresten der ersten Kirche, da wurde klar, dass uns der Heilige Geist hier eine Quelle in aller Frische geschenkt hat, die uns auch heute noch inspirieren kann. In ähnlicher Weise, so meine ich, müssen wir einen Weg finden, um den 900sten Jahrestag der Charta Caritatis zu begehen, nämlich in einer Haltung der kindlichen Ehrfurcht, die uns innerlich erneuert, damit wir unsererseits zu einer zisterzienischen Nachkommenschaft werden, die ähnlich wie Abraham darum bemüht ist, ein Segen für die Welt von heute zu werden.

Jedes Charisma ist vor allem ein Geschenk, eine Gnade, und es bleibt erhalten, wenn man es weiterhin als Gnade annimmt und weitergibt. Niemand ist Herr über ein Charisma. Natürlich gibt es gelegentlich sogenannte Wächter über das Charisma, aber das sind dann eher Geiselnehmer. Wir haben unser Charisma nicht erhalten, um es zur Geißel unseres Machthungers, unserer Eitelkeit oder unserer Angst zu machen, dass wir unser Leben wegen Christus verlieren könnten.

Ein Charisma verwandelt vor allem in Propheten, und Prophetsein bedeutet Diener einer Gabe zu sein, die geschenkt wurde. Es ist vergleichbar dem Eigentümer einer Quelle: Die Quelle bleibt mir erhalten, wenn ich zulasse, dass sie sich außerhalb meines Grundstücks ergießen kann, sonst wird sie zu einem stinkenden Teich.

Vor kurzem hat mich ein Wort des Propheten Amos beeindruckt, das in der Vigillesung vorgetragen wurde: „Wenn Gott, der Herr, gesprochen hat, wer könnte sich weigern, Prophet zu werden?“ (Am 3,8).

In der Geschichte unseres Charismas haben sich viele dazu bereit gefunden, das ihnen anvertraute Gotteswort weiterzugeben. Unsere spirituellen Autoren, unsere Heiligen, die Mönche und Nonnen, die es verstanden haben, in besonders sensibler und sichtbarer Weise das Feuer unseres Charismas weiterzugeben. Nachdem ich an dieser Stelle vor sechs Jahren vielleicht etwas provozierend darum geworben habe, dass wir uns gemeinsam um die Erhebung der hl. Gertrud von Helfta zur Kirchenlehrerin bemühen, haben wir einen langen Weg zurückgelegt, der vielleicht nicht unmittelbar im Sinn dieser Sache war, aber doch unserer Sache einen Sinn gegeben hat. Damit will ich sagen, dass unsere gemeinsamen Studien, Treffen und Sitzungen, die dadurch ausgelöst wurden, uns selbst davon überzeugt haben, dass das, was wir für die Kirche wünschen, für uns selbst schon Wirklichkeit geworden ist: Gertrud ist für uns eine Prophetin des Gotteswortes, die immer noch in der Lage ist, den Menschen des 21. Jahrhunderts zu erreichen und seinem Leben einen Sinn zu geben dank einer lebendigen und liebenden Beziehung mit Christus und durch ihn mit der Heiligen Dreifaltigkeit.