Mauro-Giuseppe Lepori OCist
Generalabt der Zisterzienser
Zur Situation
des Zisterzienserordens
Ich wurde gebeten, ein wenig über die Situation meines zisterziensischen Ordens zu berichten, und will dies tun, indem ich den Weg veranschauliche, den wir gerade nach meinem Eindruck durchlaufen.
Seit sechs Jahren habe ich das Amt des Generalabtes inne. Der Orden selbst umfasst ca. 2500 Mitglieder, Mönche und Nonnen eingeschlossen, und seit dem Jahr 2000 wurde uns das Recht eingeräumt, ein einziges gemeinsames Generalkapitel abzuhalten. Die Zahl der Nonnen beträgt etwas ein Drittel der Männer. Der Orden ist räumlich vertreten in Europa, auf dem amerikanischen Kontinent (Brasilien, Bolivien, Vereinigte Staaten und Kanada), in Afrika (Eritrea und Äthiopien) und in Asien, vor allem in Vietnam.
In Europa und Amerika ist der Nachwuchs in der Krise, in Afrika ist die Zahl noch ausreichend, dagegen gibt es eine große Blüte in Vietnam mit über tausend Mitgliedern in ungefähr 15 Klöstern. Natürlich muss man hier hinzufügen, dass es auch in Europa und Amerika einige Gemeinschaften gibt, die ausgesprochen lebendig sind.
Unsere Gemeinschaften in Vietnam, Eritrea, Äthiopien und Bolivien müssen sich gegen ablehnend eingestellte Regierungen behaupten oder immer damit rechnen, dass Korruption und Ideologie den Bestand der Gemeinschaft und ihre Güter gefährden kann, vor allem die Ausbildungsstätten.
In den letzten Jahren habe ich zunehmend begriffen, dass sowohl der Mangel als auch der Reichtum an Berufungen jeweils eine Herausforderung darstellen. Bei beiden Erscheinungen gibt es auf jeweils unterschiedliche Art ebenso viele Probleme. Beides ist vergleichbar mit Anorexie und Bulimie, bei denen man sich weniger mit den äußeren Symptomen zu beschäftigen hat als vielmehr mit Persönlichkeitsproblemen, die auf einer viel tieferen Ebene liegen. Diese tiefere Ebene hat nichts mit der Zahl der Berufungen zu tun, sondern mit der Treue zur einen Berufung aller Mönche und Nonnen und Gemeinschaften, nämlich der zisterziensischen oder benediktinischen Berufung. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Berufung zur Christusnachfolge unter der Führung des Evangeliums im Rahmen der klösterlichen Gemeinschaft entsprechend dem Charisma des hl. Benedikt.
In den letzten sechs Jahren mussten wir zwei Kongregationen von den insgesamt 13 Kongregationen aufheben, aus denen der Orden besteht. Zur Zeit bin ich komissarischer Leiter einer Kongregation und Pro-Präses einer weiteren. Zudem unterstehen ungefähr 20 Klöster direkt mir in meiner Eigenschaft als Generalabt.
In diesen Jahren fehlte es nicht an Sorgen, sogar Momente der Verzweiflung und der Wut gegenüber bestimmten Personen und Institutionen, sogar innerhalb der römischen Kurie und unter den Bischöfen und natürlich innerhalb meines eigenen Ordens, die versucht haben und denen es manchmal sogar gelang, ihre Macht zu demonstrieren oder in kleinlicher Weise Schaden zuzufügen. Daraus entstanden beträchtliche menschliche und geistliche Verwundungen, die teilweise gerade fragile Situationen betrafen, in denen in erster Linie Trost und Mitmenschlichkeit angebracht gewesen wären. Dabei wurde mir bei Besprechungen mit meinem Rat und dem Generalkapitel bewusst, dass es in bestimmten Fällen besser gewesen wäre, wenn der Orden diese intern hätte lösen können, ohne den Zwang mit bestimmten Personen und Instanzen zusammenzuarbeiten, die oft gar kein Gespür für unsere monastische und zönobitische Berufung besitzen. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen und auch keinen polemischen Eindruck erwecken. Es sei hier nur gesagt, damit die vorhandenen positiven Erfahrungen dieser letzten Jahre um so deutlicher hervortreten, die ich nun darlegen möchte.
Ich habe bereits angedeutet, dass die Wirklichkeit des Zisterzienserordens und der Kirche heute ebenso wie zu früheren Zeiten durch Erfahrungen der Bedrohtheit und Zerbrechlichkeit bestimmt ist. Dabei wies ich darauf hin, dass ein Kloster mit mehr Nachwuchs und einer jüngeren Gemeinschaft nicht weniger mit Problemen zu kämpfen hat als eine Gemeinschaft, die von der Zahl der Mitglieder und ihren Kräften her eingeschränkt ist. Denn wenn ein Noviziat aus mehr als 50 Personen besteht und weder die Mittel noch die Personen für eine angemessene Ausbildung vorhanden sind, vor allem für eine geistliche Begleitung eines jeden Kandidaten auf seinem Weg, so ist auch das eine große Schwäche. Denn wer keine gute spirituelle Ausbildung und Begleitung erhalten hat, der wird beim langsamen Verschwinden jugendlicher Energien sich in doppelter Weise ausgelaugt fühlen, nämlich körperlich und geistlich.
Der hl. Benedikt spricht in seiner Regel oft von der infirmitas der Körper und der Seelen. Dies meint einen Mangel an firmitas, also von Festigkeit, der Fähigkeit, auf eigenen Beinen zu stehen und zu gehen. Er spricht auch von imbecillitas, was ethymologisch davon kommt, dass ein Stock (baculum) fehlt, also auch mit der Schwäche zu tun hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Benedikt spricht auch von fratres fluctuantes (RB 27,3), was mir eine gute Beschreibung für heutige Menschen, vor allem Jugendliche scheint, die auf Wogen von Nebensächlichkeiten dahintreiben, sich beim Surfen im Internet verlieren, wo es nur so wimmelt von Nachrichten, die nie vertieft, von Informationen, die nie überprüft, von Erfahrungen, die nie gelebt werden und immer verschwommen bleiben.
Wir sind aufgerufen, diesem Schwanken in uns selbst entgegenzutreten, in unseren Gemeinschaften und bei den Personen, die zu uns oder zu denen wir gesandt sind. Die große Schwäche des heutigen Menschen ist eben dieses oberflächliche Dahintreiben, bei dem die Person sich von der Oberfläche der Dinge bewegen lässt wie Schaum auf den Wellen.
Ein solches Schwanken lässt sich auch nicht durch einen zahlreichen Nachwuchs oder durch ein niedriges Durchschnittsalter einer Gemeinschaft bekämpfen. Im Gegenteil: Gerade die Vielzahl des Nachwuchses kann die Schwäche verstärken und eine Lösung erschweren. Oft heißt es ja, dass der hohe Nachwuchs in den Entwicklungsländern ein ähnliches Phänomen sei wie im Europa oder in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts. Das trifft vielleicht auch zu, nur muss man dabei auch bedenken, dass die europäischen und amerikanischen Jugendlichen dieser vergangenen Zeiten nicht in einer fluktuierenden Kultur aufwuchsen, wie es heute bei Jugendlichen aller Kontinente der Fall ist. Ich möchte bestimmt nicht die früheren Zeiten idealisieren, in denen es eine Vielzahl von Schwachpunkten gab. Aber man kann – wie ich meine – berechtigterweise sagen, dass Jugendliche früherer Zeiten eine größere „firmitas“ im menschlichen, psychologischen, spirituellen und religiösen Raum mitbekamen, da nun einmal das familiäre, das soziale und das kirchliche Umfeld weit stabiler und weniger unverbindlich als die Kultur der letzten Jahrzehnte war.
Wenn also das Problem vor allem in einem solchen Zustand von infirmitas, von imbecillitas, von Sich-Treiben-Lassen besteht, so muss die Lösung vor allem in der Ausbildung bestehen, in einer Ausbildung allerdings, die eine geistliche Begleitung darstellt. Man muss demjenigen die notwendige Unterstützung anbieten, dem es schwer fällt, auf eigenen Beinen zu stehen, sich gerade hinzustellen und zu gehen. Diese Herausforderung ist emminent seelsorglicher Art wie zur Zeit Christi: „Als er die Menschenmenge sah, fühlte er Mitleid, denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe ohne Hirten. Da sagte er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter! Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“ (Mt 9,36-38)
Vielleicht sind es ja gerade diese „Arbeiter“, die Gott im Prolog der Regel sucht (V. 14). Also nicht nur Missionare, die in die Welt hinausgehen, sondern auch reife Schwestern und Brüder, die sich und andere zu einer inneren Stabilität und Festigkeit hinzuführen wissen, natürlich in einem Geist der Demut und Barmherzigkeit, der der gesamten Herde ermöglicht, einen solchen Weg zu gehen trotz der uns alle heimsuchenden Versuchung, möglichst unverbindlich zu leben. In Kapitel 27 werden diese Arbeiter „sempectas“ genannt, also „seniores sapientes fratres“, welche als ältere weise Brüder im Auftrag des Abtes die „schwankenden Brüder“ trösten sollen (RB 27,2-3).
Diese Frage scheint mir die größte und dringlichste Herausforderung für unsere Orden, für unsere Kirche und für unsere gesamte Gesellschaft zu sein. Darin liegt auch das größte Werk der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe für den Menschen von heute.
Es gibt zwar heute eine intellektuelle und formal korrekte Noviziatsausbildung, aber es fehlt oft an einer Begleitung, die dazu anleitet, eine tiefe und Stabilität verleihende Gemeinschaftserfahrung mit Gott, den Mitbrüdern und Mitschwestern zu suchen, die für das benediktinische Charisma wesentlich ist. So gibt es zwar Belehrung, aber keine Weisheit, wir leben in gemeinsamen Räumen, pflegen aber keine brüderliche Gemeinschaft und tauschen uns kaum über das aus, was wahrhaft in unserem Leben und unserer Erfahrung zählt.
Daher scheint es mir, dass in meinem Orden, der so viele Grenzen und Schwächen kennt – angefangen beim Generalabt – in den letzten Jahren und bereits unter meinen Vorgängern ein zunehmender Schwerpunkt auf die Ausbildung der Ausbilder gelegt wurde. Dabei ging es weniger um eine Vermittlung von Techniken und Inhalten, sondern um die Erfahrung von Begegnung und brüderlicher Gemeinschaft. Dazu sind nicht nur Vorgesetzte und Ausbilder, sondern jeder Bruder und jede Schwester eingeladen, sich als Stütze für die Mitbrüder und Mitschwestern zu erfahren oder selbst als „schwankender Bruder“ oder „schwankende Schwester“ getragen, getröstet und begleitet zu wissen von „seniores sapientes fratres“ oder „sorores“. Eine solche Erfahrung lässt stabilen Halt gewinnen und macht die Menschen zu eigenständigem Gehen und zur Begleitung fähig.
Unsere vietnamesischen Klöster unternehmen enorme Anstrengungen im Bereich der Ausbildung, nicht allein indem sie Studenten ins Ausland schicken, sondern auch durch die Einrichtung von philosophischen und theologischen Ausbildungsstätten für die gesamte Kongregation. Aber auch sie spüren sehr wohl und immer deutlicher, dass das eigentliche Anliegen in einer geistlichen Begleitung innerhalb des monastischen und gemeinschaftlichen Lebens besteht. Daher haben wir für das kommende Jahr eine Weiterbildungswoche für alle Superioren und Ausbilder vorbereitet, bei der es eben um das Thema der Begleitung gehen soll. Die Veranstaltung soll in Vietnam stattfinden, wobei vietnamesische und europäische Äbte und Äbtissinnen teilnehmen werden. Dabei sollen nicht nur vietnamesische Mönche und Nonnen ausgebildet werden, sondern auch und vielleicht vor allem sind wir Europäer aufgefordert, uns mehr auf die vietnamesische Kultur und Spiritualität einzulassen. Auch Benediktiner und Bernhardinerinnen werden daran teilnehmen.
Ich möchte auch ausdrücklich aussprechen, dass es in diesen Jahren für mich eine große Überraschung war, wie die Ordenstreffen zu Momenten der Gnade werden, einer spürbaren und unerwarteten Gnade, die alle unsere Erwartungen übertraf und stärker war als unsere gegenseitigen Vorbehalte, unsere Meinungsunterschiede, unsere verschiedenartigen Observanzen, Stilformen, Mentalitäten und Kulturen. Nicht nur für mich, sondern für alle war dies eine Überraschung. Dies trifft besonders für das letztjährige Generalkapitel zu. Im Programm waren auch Punkte enthalten, bei denen wir uns geteilter Meinung wussten. Wir befürchteten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Sensibilitäten und Kulturen, denn während der vergangenen fünf Jahre seit dem letzten Generalkapitel hatte es eine Reihe diesbezüglicher Zwischenfälle, Streitigkeiten und Beziehungsschwierigkeiten gegeben. Wie die anderen auch hatte ich eine Reihe von Irrtümern begangen, hatte es an Nächstenliebe und Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Sensibilitäten fehlen lassen. Und dennoch durchwehte uns von Anfang an ein Hauch des Heiligen Geistes, der alles unsere Befürchtungen verwandelte bei dieser Gelegenheit, die Einheit, das gegenseitige Zuhören und ein tieferes Verstehen zu fördern.
Diese unerwartete Erfahrung begann vielleicht, nachdem ich eine einleitende Meditation in den Raum gestellt hatte. Ich ging dabei vom Evangelium der Emmausjünger aus und einigen Abschnitten der Benediktsregel. Ich wies darauf hin, dass auch unter uns Christus gegenwärtig ist und unser Herz durch seine Gegenwart und sein Wort brennen lässt. So sagte ich: „Wir müssen uns den Rahmen unserer Gemeinschaft, unserer Liturgie, Seelsorge und Ausbildung, der üblicherweise unsere zisterziensische Berufung absichert, wie diesen Weg von 60 Stadien oder 7 Meilen oder 11 Kilometern vorstellen, der Jerusalem von Emmaus trennt. Die Treue zur Regel, zu unserem Charisma und zur Berufung unserer Gemeinschaft hat uns auf diesen Weg zu einer Zeit geführt, in der Jesus uns erreichen und mit uns gehen will. Für uns bleibt es immer eine Überraschung, der er uns begegnet, mit uns spricht und sich endlich uns offenbart. Doch es ist die Treue, die uns auf diese Erfahrung vorbereitet und uns dem Geschenk des Auferstandenen öffnet. Dann werden uns Begeisterung, Hoffnung und Dankbarkeit als Gnadengeschenke zuteil.
Auch das Generalkapitel sollte wie jeder Moment unserer Begegnungen als ein Stück dieser Straße verstanden werden, auf der wir im Glauben darauf vertrauen, dass Christus uns begegnen, uns begleiten, mit uns sprechen und sich uns offenbaren will, um uns mit einer Begeisterung, einer Hoffnung und einer Dankbarkeit zu erfüllen, die wir aus eigenen Kräften weder in uns noch in anderen hervorbringen können. Es ist eine Erfahrung wie im Abendmahlsaal, als die Jünger den Heiligen Geist erwarteten, der eben die Begeisterung, Dankbarkeit und Hoffnung erweckt, die Jesus uns schenken will.“*
Als ich davon am ersten Tag unseres Generalkapitels sprach, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich das alles im wörtlichen Sinne und jenseits aller Erwartungen erfüllen sollte. Im Grunde konnte ich mir nicht vorstellen, dass bei einer kirchlichen Versammlung eine Wiederholung oder eine neue Offenbarung des Pfingstwunders geschehen könne. Da habe ich verstanden, dass Pfingsten die ständige Quelle des sich erneuernden kirchlichen Lebens ist, also auch in unseren Orden. Unser Problem besteht oft darin, dass wir unsere Probleme und die Probleme der Kirche, unser Elend als Sünder, unsere Konflikte und alles das Böse, das wir in uns und um uns herum erleben, für stärker als Pfingsten halten. Wir meinen oft, dass das Pfingstgeschenk des Heiligen Geistes wie eine Quelle ist, die nach und nach verunreinigt wird und immer dünner wird, je mehr sie in Richtung Tal läuft. Dagegen muss gesagt werden, dass Pfingsten ein Ereignis und Gottesgeschenk ist, das immer sprudeln wird, frisch und rein bleibt, und nicht von Widerspruchsfreiheit und den späteren Ereignissen abhängt. Es wird sich immer wieder erneuern, und auch unser eigenes Altern und zunehmende Schwäche können diese immer lebendige Frische nicht beeinträchtigen.
Als ich beim Generalkapitel tagtäglich dieses verblüffende Frische erleben konnte, sagte ich mir selbst: Schau an, du lebst oft in deinem Orden wie mit einer alten Ehefrau, die immer mehr auseinandergeht, langweiliger und hässlicher wird. Oft sehe ich nur noch die Falten und den körperlichen und geistigen Verfall. Im Grunde denke ich mir, dass Gott den Orden auch so sieht, ja ihn sogar noch kritischer als wir betrachtet, da er ja alles sieht. Und auf einmal merke ich, ja merken wir alle, dass Gott unseren Orden wie auch die gesamte Kirche als seine immer junge, schöne und vor Leben sprühende Braut betrachtet.
Darin besteht auch das eigentliche Problem der Krise der Kirche, der Orden und der kirchlichen Einrichtungen, dass wir zu oft in den Spiegel blicken anstatt uns von Gott anschauen zu lassen. Er muss uns offenbaren, wer wir eigentlich sind und wie wir sind, er muss uns die Schönheit zeigen, die in seinen Augen immer in uns zu finden ist.
Diese Schönheit erfahren wir vor allem in der gegenseitigen Begegnung, wenn wir uns vereinen und auch sichtbar ekklesia sind, also eine von Gott zusammengerufene Versammlung. Das geschieht für uns vor allem im Generalkapitel, aber auch in jeder Zusammenkunft unserer klösterlichen Familie. Zwischen den Kapiteln gibt es zwei Synoden des Ordens, bei dem sich alle Präsides der Kongregationen sowie jeweils fünf gewählte Mönche und Nonnen versammeln. Außerdem gibt es seit 2010 alle zwei oder drei Jahre einen Führungskurs für die Superioren des Ordens. Der letzte fand im Juli dieses Jahres mit 50 Teilnehmern statt, d.h. ungefähr der Hälfte der Führungskräfte unseres Ordens. Dann gibt es den internationalen Ausbildungskurs für jüngere und mittelalte Mönche und Nonnen in der Ausbildung, der in Zusammenarbeit mit Sant’Anselmo angeboten wird. Daran nehmen jeweils auch eine ziemliche Anzahl benediktinischer, trappistischer und sonstiger monastischer Studenten teil.
Jede dieser Begegnungen bietet Anlass, die Erfahrung zu wiederholen, die ich beschrieben habe, mit einem Geist, der uns staunen lässt, mit Christus, der uns entgegengeht, uns im Gespräch begleitet, uns tröstet und unsere Kräfte und unsere Hoffnung erneuert, so dass wir den Weg weitergehen können.
Beim Führungskurs im Juli haben wir verstanden und erfahren, dass wir uns gegenseitig helfen müssen, das Gotteswort gemeinsam zu vernehmen, damit solche Momente fruchtbar werden. Jeden Tag begannen wir unsere Arbeit mit einer lectio divina in Sprachgruppen, bei der wir das Tagesevangelium lasen. Das war für alle Teilnehmer eine bereichernde Erfahrung, und wir haben beschlossen, dass wir auch bei unseren offiziellen Treffen diese Übung übernehmen wollen. Es schafft gewissermaßen einen Grundakkord, auf dem sich dann die verschiedenen Themen entfalten können, über die wir verhandeln, diskutieren und entscheiden. Es schlägt auch den richtigen Ton für einen Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten an, damit wir uns gegenseitig anregen. Ich bin immer mehr überzeugt, dass wir nur auf der Grundlage des Evangeliums und der Benediktsregel die großen kulturellen Unterschiede, die Unterschiede in Stil und Psyche harmonisch leben können und in einer Weise, die uns gegenseitig bereichert. Beim Führungskurs, dessen Leitthema die Barmherzigkeit war, habe ich an einem Tag alle sechs Sprachgruppen gebeten, sich Gedanken über das Kapitel 37 der Regel zu machen, worin es um die „Alten und Kinder“ geht. Nach einigen Stunden haben wir uns wieder getroffen, um unsere Ergebnisse zu präsentieren. Jede Gruppe bot einen faszinierenden Bericht und jeder war ganz anders. Denn jede Kultur hatte Benedikt in der ihr eigenen Weise verstanden und konnte so die anderen bereichern.
Mir wurde bewusst, wie wichtig es wäre, wenn in allen Bereichen dieser Reichtum eines symphonischen Zusammenklangs geschätzt würde. Aber damit dies geschieht, müssen erst alle aus den echten Quellen unserer Berufung und unseres Charismas trinken. Es ist zu wünschen, dass Zeiten und Mittel für einen solchen Austausch geschaffen werden, wo wir darüber sprechen, was der Geist den Gemeinden sagen will und jeder Familie innerhalb der großen Ordensfamilie.
Ein solches Teilen verlangt auch Demut, nämlich die Demut, dass jeder den anderen braucht. Gemeinschaft verlangt noch vor allem Teilen unserer Schätze, dass wir auch unsere Schwäche miteinander teilen. Dabei hilft uns die heutige Situation des Niedergangs. Ich erinnere mich noch aus meiner Zeit als junger Abt, wie unsere Generalkapitel Schlachtfeldern glichen, bei denen es darum ging, auf Gegner zu treffen und sie zu besiegen. Einige Kongregationen waren oder fühlten sich stark und meinten, sie müssten nun die Macht (was für eine eigentlich?) an sich reißen. Dann erreichte uns alle auf die eine oder andere Art der Segen unserer zunehmenden Schwäche, die Einsicht, dass keiner wahrhaft stark ist, so dass es auf einmal lächerlich erschien, stärker als die anderen wirken zu wollen. Sicher gab es diese Versuchung und es wird sie immer geben, aber im Großen und Ganzen hat sich das Klima verändert. Dabei spielt auch der Einzug der Frauen in unsere Generalkapitel eine Rolle. Wir können dabei beobachten, dass die Männer im Allgemeinen eine Neigung haben, „Politik“ zu betreiben und über theoretische Probleme und Fragen zu sprechen, während die Frauen sich mehr für Personen und Gemeinschaften interessieren. Der Austausch fördert die Gemeinschaft und den Familiengeist.
Ein solcher Verzicht darauf, Macht für wichtiger zu halten als Dienst und Gemeinschaft, entsteht auch aus einem gemeinsamen Bemühen, Christus bewusster wahrzunehmen. Denn der Machthunger, der zur Spaltung führen kann oder zunächst zu einem verminderten Bedürfnis nach Gemeinschaft, ist im Grunde eine Art Götzendienst. Einen solchen Götzendienst kann man nur durch die Verehrung des einen wahren Gottes überwinden, der in unserer Mitte gegenwärtig ist. Wenn der Auferstandene im Abendmahlsaal erscheint oder auch am Ufer des Sees und die Jünger ihn erkennen, dann verschwinden alle Ängste, die Müdigkeit und alles Geschwätz. Wenn wir uns auf Christus konzentrieren, nehmen wir die anderen besser wahr. Wenn wir ihm verbunden sind, entsteht ein Wohlwollen, das uns sonst so nicht gegeben wäre.
Nach dem Generalkapitel sind wir alle in unsere Gemeinschaften und natürlich zu unseren Problemen zurückgekehrt. Aber es blieb sicher auch ein gewachsenes Bedürfnis, uns gegenseitig beizustehen, wie ich als Generalabt beobachten kann. Während des Kapitels und dann beim Führungskurs wuchs das Bewusstsein, dass wir nur Fortschritte machen können, wenn wir uns gegenseitig helfen. Wir alle brauchen das Gefühl, dass wir von „seniores sapientes fratres et sorores“ begleitet und unterstützt werden. So sind seit einigen Jahren auch schon einige inoffizielle Gruppen von Äbten und Äbtissinnen entstanden, die sich regelmäßig treffen oder untereinander im ständigen Austausch befinden, um sich gegenseitig bei ihren seelsorglichen Aufgaben zu beraten. Bei meinen eigenen Reisen und Visitationen oder bei der Begleitung besonders gefährdeter Gemeinschaften weiß ich mich von der Hilfe der anderen Äbte des Ordens getragen. In vielen Situationen besteht die wichtigste Hilfe darin, dass man sich von mitbrüderlicher Aufmerksamkeit begleitet weiß, ganz unabhängig von der Frage, ob nun die Gemeinschaft es tatsächlich schafft, dass sie weiter existiert.
Im Schreiben Evangelii gaudium von Papst Franziskus befindet sich ein Gedanke, der für mich in meinem Dienst und Ordensleben sehr wichtig geworden ist. Es handelt sich um die Stelle, an welcher der Papst daran erinnert, dass Zeit mehr wert ist als Raum (EG 222- 225): „Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen.“
Diese Vorstellung ist ausgesprochen beruhigend, aber auch fruchtbar und anregend, denn sie legt den Schwerpunkt auf die kleinen Schritte unseres Dienstes. Sie sind nie unbedeutend oder unnütz, wenn sie einen Lebensprozess in Gang setzen oder weiterführen, der als Horizont nicht einen Machtraum anstrebt, sondern die Ewigkeit, die durch Gnade und Liebe bereits jetzt beginnt. Wenn wir wahrnehmen, dass ein Lebensprozess angeregt wird, auch wenn er noch so klein sein sollte, finden wir Frieden und können in Glauben und Hoffnung die Vollendung dem Herrn anvertrauen, der allein das Gelingen schenken kann.
* Vollständiger Vortrag in www.ocist.org unter Generalkapitel 2015.